Fußball Fußball: Ein Neuling erhält seine Chance in Chile
DESSAU/MZ. - Harald Seeger hatte gerade das Amt des Cheftrainers des Deutschen Fußballverbandes der DDR übernommen, da stand im Januar 1968 schon ein erster Höhepunkt für die von ihm betreuten besten Vereinskicker ins Haus: Die Nationalmannschaft versammelte sich vor nunmehr 42 Jahren, um am 9. Januar für etwa vier Wochen nach Santiago de Chile zum "Torneo Octogonal", einem hochkarätig besetzten Turnier, zu fliegen. Zum Kader gehörte damals seit langem wieder einmal ein Dessauer Spieler, der zu dieser Zeit jedoch schon für Rot-Weiß Erfurt in der Oberliga auf Torejagd gehende Gerd Stieler.
Test gegen Fürstenwalde
Ziel der Südamerikareise war die Vorbereitung auf die beiden Olympiaqualifikationsspiele gegen Bulgarien im April. Die DDR wollte mit ihrer Nationalmannschaft unbedingt nach Mexiko-City, dass dies nach einer 1:4-Niederlage in Stara Zagora und einem 3:2-Sieg in Leipzig misslingen sollte, das wusste zu diesem Zeitpunkt logischerweise noch niemand. Bulgarien war 1968 einfach besser.
Vor dem Start in Berlin absolvierte der 24-jährige Stieler sein erstes Übungsspiel mit der Auswahl. Die TSG Fürstenwalde wurde mit 5:1 besiegt, Stieler eingewechselt. Dann ging es ins 12 530 Kilometer Luftlinie von Berlin entfernte Santiago. Dort warteten die CSSR-Nationalmannschaft, der FC Santos aus Brasilien mit seinem Stürmer-Star Pele, der Weltpokalsieger Racing Club Buenos Aires aus Argentinien, Vasa Budapest aus Ungarn sowie die drei gastgebenden chilenischen Spitzenmannschaften Colo Colo Santiago, Universidad Catolica sowie Universidad Santiago.
Und Stieler konnte sich durchaus berechtigte Hoffnungen auf Einsätze machen. Schließlich hatte Trainer Seeger gesagt: "Ich habe Stieler selbst gesehen. Er verspricht einiges, und wir wollen den Auswahlkreis verbreitern. Mein Kollege Schwendler hat mir den jungen Mann empfohlen; er weiß am besten, was er kann."
Das stimmt wohl, denn Martin Schwendler, Trainer bei den Erfurtern seit 1966, hatte maßgeblichen Anteil an der sportlichen Entwicklung des Dessauers, hatte ihn - ebenso wie Horst Elsner - von Motor Dessau zu den Rot-Weißen geholt. Es war eine rasante Entwicklung, die der junge Mann in den 1960er Jahren vollzog. Schließlich war er erst 1961 von Waldersee zu Motor Dessau in den Schillerpark gekommen, hatte 1961 / 62 den Abstieg aus der DDR-Liga erlebt, den darauf folgenden sofortigen Wiederaufstieg mitgemacht und zählte bis zum Ende der Saison 1965 / 66 zu den Stützen von Motor in der DDR-Liga, Staffel Nord. Stieler habe gutes spielerisches Können, manchmal fehle ihm aber am Ende Kondition. Er solle mehr von seiner Schusskraft Gebrauch machen. "Wir können von ihm noch einiges erwarten", so stand es damals in der örtlichen Presse. Und Horst Elsner, der übrigens am 3. Februar seinen 70. Geburtstag feiert, es damals jedoch nur ein Jahr bei den Erfurtern aushielt, sagt heute: "Stieler war ein Draufgänger im Spiel, ein guter Stürmer, er hat sich nie geschont."
Nun sollte der erste internationale Einsatz folgen. Am 9. Januar 1968, dem Tag des Fluges nach Chile, ist Stieler auf der "Fuwo"-Titelseite mit Dieter Erler zu sehen. Unter der Überschrift "Der Kapitän und der Neuling" heißt es: "Dieter Erler, Kapitän unserer Nationalmannschaft, übergibt dem Erfurter Gerd Stieler das Auswahltrikot. Der Torjäger des Oberliga-Neulings zählt erstmals zum Aufgebot unserer Vertretung. Wir hoffen und wünschen, dass Stieler die ihm gebotene Chance nutzt!" Und er versuchte es zumindest.
Die 24-köpfige DDR-Delegation war im Hotel "Emperador" mitten im Zentrum von Santiago de Chile untergebracht, die Stimmung fantastisch, das Hotel stets von jugendlichen Autogrammsammlern umlagert, es herrschte Trubel bis in die späten Nachtstunden. Durch Spielverlegungen kam die Nationalmannschaft indes, anders als geplant, erst sechs Tage nach ihrer Ankunft zu ihrer ersten Begegnung im Nationalstadion, das immerhin zirka 70 000 Zuschauer fassen konnte und bei fast allen der 28 Spiele gut besucht war. So wurde vorerst im Stadion "Santa Rosa" trainiert, bei Temperaturen über 30 Grad Celsius im Schatten, daheim war Winter.
Im ersten Spiel behauptete sich die DDR gegen Universidad Santiago mit 5:2. "Eine Mannschaft von Klasse, die ich hier kennen lernte und die für mich die reellsten Chancen hat, das Turnier zu gewinnen", sagte Pele über das deutsche Team nach der Begegnung. Im zweiten Treffen ging es gegen Colo Colo und auch hier siegte die DDR am Ende mit 5:2. Doch Stieler hatte bislang keine Einsatzchance erhalten.
Endlich eingewechselt
Beim dritten Spiel war es dann endlich soweit. Er wurde in der 61. Minute für Günter Hoge von Union Berlin eingewechselt und hatte somit Anteil am 4:2-Sieg gegen Racing Buenos Aires. "Mit dem Erfurter Stieler kam in der 61. Minute ein Debütant in unserer Elf zum Einsatz, über den es durchaus anerkennende Worte zu verlieren gibt. Er selbst beurteilte seinen Einstand so: ,Ich betrat sicher in der kritischsten Zeit das Feld, denn gleich nach der Pause drückte der Gegner fast unaufhörlich. Umso mehr freue ich mich, dass es recht gut lief. Über meine ausgelassene Großchance ärgere ich mich aber bestimmt noch einige Zeit.' Was man dem sehr tatendurstig aufspielenden Erfurter, der erstaunliche Nervenstärke bewies, bestimmt nicht ankreiden kann, zumal seine positiven Seiten bei weitem überwogen", stellte der Reporter der "Fuwo" fest.
Trotzdem sollte es für Stieler der einzige Einsatz in Chile bleiben. Gegen Vasas Budapest folgte ein 3:3, dann hieß es 2:0 gegen Universidad Catolica und 2:2 gegen die CSSR-Auswahl.
Vor dem für den Turniersieg alles entscheidenden Spiel gegen den FC Santos war die DDR-Auswahl als einzige Mannschaft noch ungeschlagen, da Santos gegen Universidad Santiago mit 2:1 verloren hatte. Die Mannen um Kapitän Erler konnten indes die Brasilianer nicht bezwingen, verloren mit 1:3, wurden jedoch sensationell Zweiter des "Octogonal".
Zwiespältiges Fazit
Für Gerd Stieler gingen damit ereignisreiche Wochen zu Ende, obwohl er sich garantiert mehr Einsatzzeit gewünscht haben wird. "Wir sahen hervorragende Einzelkönner, von denen wir viel lernen konnten." So wird der Torjäger am Ende des Turniers in der "Fuwo" zitiert. Den Sprung in die Auswahl hat der Dessauer nie wieder geschafft, erfolgreich in den verschiedenen Vereinen war er jedoch allemal (siehe "Erfolgreiche Zeit bei Rot-Weiß Erfurt")
Gerd Stieler wurde im Januar 1997, er war mit einer Freizeitmannschaft auf dem Weg zu einem Turnier in die Schweiz, in einen Verkehrsunfall verwickelt. Drei Tote waren zu beklagen, er selbst wurde schwer verletzt. Bei einer Rehabilitationsmaßnahme starb er noch 1997 im Alter von nur 54 Jahren.