Wie Sport gesellschaftliche Debatten befeuert Olympia 2016 in Rio: Der Mythos vom "Dabeisein ist alles"

Halle (Saale) - Man kennt das ja irgendwie schon. Vor dem Startschuss zu großen Sportereignissen wird Politisches gewälzt. Egal, ob es eine Fußball-WM ist oder ob es um Olympische Spiele geht. Die Debatten gleichen sich. Die Frage von Menschenrechten in den Ausrichterländern ist wiederkehrend – 2014 in Russland, 2008 in China; die Fußball-WM wird es noch erleben: 2018 in Russland, 2022 in Katar. Ebenso kennt man die Diskussionen um die Nachhaltigkeit und die Kosten, gerade bei Olympischen Spielen – 2012 London, 2010 Vancouver, 2006 Turin, 2004 Athen.
Stets eine interessante Parallele
Doch in all diesen Fällen gab es stets eine interessante Parallele: Mit den Eröffnungsfeiern waren die Debatten vergessen, untergegangen im aktuellen Sportgeschehen. Auf diese Logik der öffentlichen Wahrnehmung konnten sich die Funktionäre stets verlassen. Am Ende regiert eben doch der Sport.
Genau in diesem Punkt, so darf man vermuten, werden sich die Spiele von Rio nun aber von ihren Vorgängern unterscheiden. Es ist wieder einmal Krise. Vielleicht war sogar noch nie mehr Krise. Aber: Diese Krise ist anders gelagert. Sie liegt nicht vorrangig im politisch-gesellschaftlichen Umfeld der Gastgebernation Brasilien, sondern im Sport selbst. Doping. Der mehr als halbherzige Anti-Doping-Kampf des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), der unerklärliche Umgang mit nachgewiesenem Staatsdoping in Russland, das sorgt diesmal nicht für leicht auszublendenden Unmut in irgendwelchen Pressezentren. Es sorgt für Unmut im olympischen Dorf. Bei den Athleten.
Olympia ist krank
Olympia ist krank. Und es handelt sich nicht um einen Muskelkater, der vorbeigeht - es ist Herzinfarkt und Schlaganfall zugleich für den olympischen Gedanken. Denn zwangsläufig trägt sich die Debatte nun in die Wettkämpfe weiter. Wo Russen um Medaillen kämpfen, wird der Dopingverdacht mit am Start sein. Das mag zwar in vielen Fällen unfair den betroffenen Sportlern gegenüber sein. Doch diesen Ballast hat das IOC selbst den Wettbewerben auferlegt.
In Rio werden es die Spiele der Fragezeichen sein. Gepaart damit, dass viele Entscheidungen - weil mitten in der Nacht - hierzulande ohnehin unter dem Radar der breiten Öffentlichkeit fliegen dürften, werden es wohl die Spiele der großen emotionalen Distanz sein.
Paradigmenwechsel bei Erfolgsmaßstab?
Doch so verwegen das auch klingen mag: Vielleicht liegt genau in dieser Distanz, in einer gewissen Unaufgeregtheit in der Betrachtung die große Chance. Denn was ist die angemessene Reaktion darauf, wenn Gold, Silber und Bronze einen Graustich bekommen? Diese Reaktion kann doch nur sein, den Gewinn von Medaillen nicht mehr zum obersten Bewertungsmaßstab zu erheben. Es wäre fraglos ein Paradigmenwechsel.
Schon 2013 hat der Deutsche Olympische Sportbund für Rio seine Erwartungshaltung formuliert, den Medaillenkorridor: 40 bis 70 Medaillen. 2015 wurde dieser korrigiert: auf 42 bis 71. Aber ist das noch zeitgemäß? Warum nicht die Sportler an sich selbst statt an Edelmetall messen? Das Olympia-Resultat im Vergleich zur persönlichen Bestleistung beispielsweise. Es ist nur ein Denkansatz. Aber er würde eine Richtung vorgeben: Auch bei Olympia gibt es mehr als Platz eins bis drei. Wer darin das alte olympische Motto „Dabeisein ist alles“ wiederzuerkennen glaubt, liegt nicht ganz falsch. Die Idee, dass die Teilnahme zählt, nicht der Erfolg, ist der älteste Mythos, der sich um die Spiele hält. Pierre de Coubertin, dem Gründervater der Neuzeit-Spiele, wird der Satz zugeschrieben - gesagt hat er ihn in dieser Form freilich nie. Als es 1908 Diskussionen gab, wer denn den 400-Meter-Lauf gewonnen habe, sagte Coubertin: „Das Wichtigste bei den Olympischen Spielen ist nicht zu gewinnen, sondern teilzunehmen.“
Als übergeordneter Gedanke war das nicht gemeint. Aber in Zeiten, in denen der Betrug Teil des Systems zu sein scheint, passt er besser denn je. Das berühmteste Motto der olympischen Bewegung, die olympische Idee, die es in Wahrheit nie gegeben hat, ist der perfekte Leitspruch für die Spiele in Rio. (mz)