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Von Bill Shankly bis Hillsborough Vor dem Europa League-Viertelfinale gegen Borussia Dortmund: Das macht den FC Liverpool so einzigartig

Von Max Ohlert 06.04.2016, 15:23
Die Fans des FC Liverpool auf dem "Kop" - der ehemals größten Stehtribüne der Welt
Die Fans des FC Liverpool auf dem "Kop" - der ehemals größten Stehtribüne der Welt imago sportfotodienst

Halle (Saale)/Liverpool - Als Bill Shankly einst gefragt wurde, welche Philosophie er vom Fußball habe, antwortete er: „Den Sozialismus. Dabei arbeitet jeder für den anderen mit und man hilft sich gegenseitig. Genau so sehe ich den Fußball.“ Ein einziges Zitat vom größten Trainer in der Geschichte des FC Liverpool reicht kaum aus, um den Mythos von der Anfield Road zu erklären - aber es verdeutlicht gut, auf welchen Werten der legendäre Club aus dem Westen Englands aufgebaut ist.

Es mutet an, als habe sich der Fußball die ganz großen Legenden seit jeher für den Verein von der Merseyside aufgehoben. Die Ausgangssituation ist perfekt: Fußballfans weltweit, ob im Mutterland des Fußballs, im vom Kohlestaub bedeckten Ruhrgebiet oder in den schwül-warmen barrios der Kicker-Metropole Buenos Aires, lieben die „Arbeiterclubs“ und ihren ehrlichen, auf rustikales Zweikampfverhalten ausgelegten Fußball. Und Liverpool ist seit jeher die Arbeiterstadt schlechthin.

Liverpool sollte "geordnet verfallen"

Einst der größte Hafen der Welt verlor sie nach dem zweiten Weltkrieg stark an strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Englands „eiserne Lady“, Premierministerin Margareth Thatcher, wollte die Stadt in den achtziger Jahren gar dem „geordneten Verfall“ überlassen. Eine Aussage, die die vornehmlich katholisch geprägte Bevölkerung Liverpools – viele sind Nachfahren irischer Einwanderer – bis heute nie verziehen hat.

Mitten im Niedergang erhoben sich die zwei bedeutsamsten kulturellen Vermächtnisse Liverpools wie Blumen aus dem Asphalt. Die Beatles eroberten mit der Popmusik die Welt und der FC Liverpool entwickelte sich zu einem der stärksten Fußballvereine Europas. Vornehmlich unter Trainer Bob Paisley, der die Ideale des legendären Bill Shankly weiterführte, gewannen die „Reds“ zwischen 1964 und 1985 zehn Meistertitel, sowie vier Mal den Europapokal der Landesmeister.

Die Stadt, in der unzählige, vor allem junge Menschen mit sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit und Armut zu kämpfen hatten, stellte fast zwanzig Jahre lang den stärksten Fußballclub der Welt. Wochenende für Wochenende vergaßen die Liverpooler all ihre Sorgen, tanzten in den Nachtclubs der Stadt zur neuen Popmusik und intonierten dieselben Songs noch restalkoholisiert am nächsten Morgen im Stadion an der Anfield Road auf dem „Kop“. Jenem räudigen Erdhügel, auf dem sich zu Hochzeiten bis zu 30.000 Zuschauer aneinander drängten und wo zu dieser Zeit die ersten spielbezogenen Fangesänge entstanden. Zuvor war es lediglich üblich gewesen, vor und nach den Spielen zu singen, nicht jedoch während der Partie.

"Who scored the goal?"

Die Legende besagt, dass an einem äußerst nebligen Spieltag in der Saison 1967/1968 die Fans auf dem „Kop“ ein Tor ihres Teams vermuteten. Gesehen hatten sie jedoch nichts, weshalb sie lautstark zu singen begannen „Who scored the goal?“ - Wer schoss das Tor? - und die Zuschauer auf der gegenüberliegenden Tribüne, die Tony Hateleys Treffer gesehen hatten, im selben Gesang antworteten: „Tony Hateley scored the goal!“

Einem ähnlichen Zufall ist es geschuldet, dass auch die wohl berühmteste Stadionhymne der Welt ihren Siegeszug an der Anfield Road begann. In den frühen sechziger Jahren war es bereits üblich, dass die Zuschauer im Stadion vor der Partie mit aktuell populären Liedern beschallt wurden. Eines dieser Lieder war die Coverversion des Musicalstücks „You'll Never Walk Alone“ der Band „Garry & The Pacemakers“.

Als eines Spieltages jedoch plötzlich mitten im Lied die Soundanlage im Stadion ausfiel, sangen die Liverpooler Fans einfach weiter, immer lauter und inbrünstiger. Eine Tradition war geboren, denn von nun an stimmten die Zuschauer vor jedem Spiel der „Reds“ von selbst jenes Lied an, was später mit seinem Text vom Weitergehen im Sturm, vom gemeinsamen Durchhalten in schweren Zeiten noch eine viel tiefgreifendere Bedeutung bekommen sollte.

Heysel und Hillsborough

Denn der Mythos Liverpool ist nicht nur der erfolgreiche Arbeiterverein, die sangesfreudigen Fans auf dem „Kop“ oder der kauzige Bill Shankly – Liverpool ist auch Heysel und Hillsborough, die beiden schwersten Katastrophen der weltweiten Fußballgeschichte. Das Unglück im Brüsseler Heysel-Stadion markierte zugleich auch das Ende der ganz großen sportlichen Erfolgsgeschichte des FC Liverpool. Vor dem Finale des Europapokals der Landesmeister in der Saison 1984/1985 zwischen den Liverpoolern und Juventus Turin schaukelten sich Hooligans beider Vereine mit gegenseitigen Provokationen so massiv hoch, dass die Briten den Fanblock der Italiener stürmten. Bei der daraus folgenden Massenpanik starben 39 Zuschauer und der FC Liverpool wurde in der Folge für sieben Jahre vom internationalen Fußball ausgeschlossen.

Als wäre dem nicht genug, traf es die Liverpooler nur vier Jahre später noch schlimmer. Für das FA-Cup-Halbfinalspiel gegen Nottingham Forrest im Hillsborough-Stadion von Sheffield waren im Vorfeld viel zu viele Eintrittskarten verkauft worden. Weil der einzige Fluchtweg völlig verstopft war, fanden am Ende 96 Liverpool-Fans einen qualvollen Tod.

Die Anteilnahme der weltweiten Fußballgemeinschaft war überwältigend und der FC Liverpool gab seiner Hymne „You'll Never Walk Alone“ den endgültigen Legendenstatus, in dem man den Titel ins offizielle Vereinswappen aufnahm, zusammen mit zwei Fackeln für die Verstorbenen beider Katastrophen. Noch heute ist das Singen der Hymne vor den Spielen des FC Liverpool und das Berühren des Wappens mit dem Schriftzug immer auf eine Ehrerbietung gegenüber denen, die ihr Leben in Heysel oder Hillsborough verloren. Das ist der Mythos des FC Liverpool - man geht niemals allein, man hilft sich in guten wie in schweren Zeiten. So wie im "Sozialismus" von Bill Shankly. (mz)