Toni Kroos bei der Fußball-WM Toni Kroos bei der Fußball-WM: Der letzte Nationalspieler aus der DDR

Halle (Saale)/MZ - René Adler hätte den Verlauf der Geschichte ändern können. Wäre der gebürtige Leipziger, großgeworden in Meusdorf bei Leipzig und nebenan beim kleinen Fußballverein SV Liebertwolkwitz, von Bundestrainer Joachim Löw ins Aufgebot der Nationalmannschaft für das WM-Turnier in Brasilien berufen worden, hätte alles anders aussehen können. Zusammen mit dem Magdeburger Marcel Schmelzer und dem aus Greifswald stammenden Toni Kroos hätten drei deutsche Nationalkicker Wurzeln im Gebiet der ehemaligen DDR gehabt. Das wären dreimal so viele wie noch bei der WM in Südafrika gewesen, als allein der bei Bayern München spielende Kroos die Fahne des Fußball-Ostens hochhielt.
Aber es ist dann doch wieder so gekommen wie vor vier Jahren. Nationaltrainer Joachim Löw strich erst den Sachsen Adler. Und dann auch noch den Magdeburger Schmelzer. Nur Kroos blieb - ein letzter Ostfußball-Mohikaner, wie ein Denkmal für andere Zeiten.
Damals, vor zwölf Jahren bei der Weltmeisterschaft in Japan und in Südkorea standen neben dem Chemnitzer Michael Ballack, dem Zeitzer Jörg Böhme und dem aus Görlitz stammenden Jens Jeremies noch weitere vier Spieler im 23er- Kader, die ihre ersten Schritte mit dem Ball irgendwo östlich der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze gelaufen waren. Es schien die Zeit gekommen, von der Fußballlegende Franz Beckenbauer geschwärmt hatte, kaum dass Deutschland 1990 mit ihm als Teamchef seinen dritten Weltmeistertitel errungen hatte: Nun, da die Spieler aus der DDR hinzukämen, werde Deutschland „auf Jahre unschlagbar sein“, erklärte ein euphorisierter Fußballkaiser.
Ost-Fußballer dominierten die gesamtdeutsche Elf
Und tatsächlich. Zwischen 1998 und 2006 dominierten die Ost-Fußballer die gesamtdeutsche Elf sogar. Nahezu ein Drittel der Nationalspieler kam Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre aus Sachsen, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt oder Thüringen, obwohl der Bevölkerungsanteil der fünf neuen Ländern nur bei etwa 18 Prozent liegt. Mit fünf Ostdeutschen zog die Völler-Elf damals ins Viertelfinale der WM ein, mit vieren quälte sie sich erst ins Halbfinale und dann sogar ins Finale, das dann mit nur noch dreien - Michael Ballack hatte sich eine Gelbsperre eingehandelt - verloren wurde.
Selbst drei ist heute allerdings eine Zahl aus einer anderen Zeit. Inzwischen stammt nicht einmal jeder zehnte Nationalspieler noch aus einem der früheren DDR-Spitzenklubs - Spiegelbild einer Entwicklung, die weniger mit mangelndem Talent als vielmehr mit mangelndem Geld zu tun hat.
Über die Bilderbuchkarriere von Marcel Schmelzer lesen Sie auf der nächsten Seite.
Einer wie Marcel Schmelzer ist die große Ausnahme, ein Bilderbuchspieler mit einer Bilderbuchkarriere. Schmelzer hätte der erste Magdeburger bei einer WM seit 1974 sein können, als Jürgen Sparwasser, Jürgen Pommerenke, Paule Seguin und Martin Hoffmann die heutige Landeshauptstadt zu viert würdig auf der Weltfußballbühne vertraten. Nicht einmal zwei Jahre vor dem Mauerfall in Magdeburg geboren, spielte Schmelzer bis zur C-Jugend bei Fortuna Magdeburg, einem Traditionsverein, der 1950 auf Anweisung der sowjetischen Behörden wegen des Verdachts allzu bürgerlicher Umtriebe aufgelöst worden war. Horst Buhtz stammte von hier, der Mann, der ab 1952 für den AC Turin in der Serie A spielte und als „Il Tedesco“, der Deutsche, berühmt wurde. Wie Buhtz, der mit 16 bei den Herren spielte, wechselte Schmelzer schon mit 17 zu Borussia Dortmund, dort gelang ihm der Sprung in die Bundesliga. Mit 19 war der Magdeburger, den seine Familie „Celli“ nennt, während die Mannschaftskameraden ihn „Schmelle“ rufen, Stammspieler, mit 22 machte er sein erstes Spiel für die Nationalmannschaft und mit 23 war er zum ersten Mal Deutscher Meister.
Marcel Schmelzer - ein Bilderbuchspieler
Eine Bilderbuchkarriere, die den jungen Mann mit dem halblangen Haar, der das Spielfeld stets betritt, indem er dreimal mit dem linken Fuß auf dem Rasen hüpft, zu einer absoluten Ausnahmeerscheinung macht. Nur Toni Kroos, nicht ganz zwei Jahre jünger und als Sohn eines Ex-Fußballers im Greifswalder Stadtteil Schönwalde aufgewachsen, kann Ähnliches vorweisen. Mit zwölf Jahren vom Vorortverein zu Hansa Rostock, mit 16 zu Bayern München, mit 18 erstmals Deutscher Meister, mit 20 Nationalspieler und mit 23 Champions League-Sieger und Stammspieler im Mittelfeld der Nationalmannschaft. Lebensläufe, die auf ostdeutsche Nachwuchsfußballer inzwischen nur noch exotisch wirken. Auch Meistertrainer Felix Magath, Besitzer eines Bauernhofes bei Bitterfeld, hat sich einmal zu den Qualitäten der Kicker aus der Ex-DDR geäußert und Lob mit Bedenken verrührt: Sie könnten viel, hätten aber eine Problematik, die „manchmal darin liegt, diese Voraussetzungen umzusetzen“, orakelte er.
Und irgendwie behielt er recht. Seit mit Michael Ballack der letzte Spieler der letzten Spartakiade-Generation um Bernd Schneider, Carsten Jancker und Alexander Zickler das Nationaldress auszog, ist es keinem Spieler aus einem Verein in den neuen Ländern mehr gelungen, einen Fuß in die Tür zur deutschen Auswahl zu bekommen. Der Hallenser Christopher Schorch, den sich Real Madrid aus dem Internat von Hertha BSC holte, war vielleicht noch am dichtesten dran, verletzte sich dann aber und wurde von Sachsen-Anhalts größtem Fußballtalent der letzten Jahrzehnte zum größten Unglücksraben. Statt in Brasilien um den Titel zu spielen, bereitet der Innenverteidiger aus Halle-Nietleben sich derzeit mit der Reservemannschaft des VfL Bochum auf die nächste Saison der Regionalliga West vor.
Wie die Situation in der U21 und in der U19-Auswahl ist, erfahren Sie auf der nächsten Seite.
Allerdings leidet die Gesamtbilanz der Ostkicker insgesamt weniger unter solchem persönlichen Pech als unter der schwachen Infrastruktur zwischen Rostock und Aue. Die großen Fußballinternate stehen in Dortmund und München, nicht in Dresden und Erfurt, der große internationale Fußball von Champions League bis Länderspiel rollt in den alten Bundesländern, nicht in den immer noch neuen. Seit 1990 etwa hat der DFB sieben Länderspiele seiner Nationalelf an Stadien auf dem Gebiet der ehemaligen DDR vergeben. Genauso viele fanden im selben Zeitraum in der Kleinstadt Kaiserslautern statt.
Mit dem Ergebnis, dass nach dem Rauswurf von René Adler und Marcel Schmelzer nun wieder nur noch Toni Kroos die Fahne des Ostfußballs beim WM-Turnier hochhält. Der ehemalige Schüler der Sportförderklasse des Ostseegymnasiums im Rostocker Stadtteil Evershagen war schon vor vier Jahren beim Turnier in Südafrika der einzige im Osten Deutschlands geborene Spieler - rein rechnerisch lag der Anteil der früheren DDR an der Nationalmannschaft so bei gerademal vier Prozent . Und damit um fast drei Viertel unter der nach dem Bevölkerungsanteil statistisch zu erwartenden Größenordnung. Felix Magath sah damals noch nicht schwarz. „Von ihren Qualitäten her könnten viel mehr Spieler aus den neuen Bundesländern in der Nationalmannschaft spielen“, glaubte er noch vor Jahren. Mittlerweile aber würde er das wohl anders formulieren, denn abgesehen von Kroos, Adler, Schmelzer und dem ehemaligen Halberstädter Nils Petersen findet sich auch in der obersten Liga kaum noch ein Spieler mit ostdeutschen Wurzeln.
Die Zukunft sieht es alles andere als rosig aus
Auch für die Zukunft sieht es alles andere als rosig aus. In der U21-Auswahl des DFB steht mit dem gebürtigen Leipziger Leonardo Bittencourt, dem Sohn des ehemals für den VfB Leipzig in der Bundesliga aktiven Brasilianer Franklin Bittencourt, noch ein einziger gebürtiger Ossi. In der U19-Junioren-Mannschaft ist es gar keiner mehr und auch in der U17-Auswahl glänzt der Nachwuchs aus den ehemals neuen Ländern durch Abwesenheit.
Nach einem Vierteljahrhundert Fußballeinheit geht ein Riss durchs Land, der noch tiefer ist, als es der inzwischen gewohnte Ligaalltag ganz ohne ostdeutsche Vereine in der 1. Bundesliga und mit nur drei Vertretern in Liga 2 verrät. Gelsenkirchen und Dortmund schicken mit Neuer und Özil beziehungsweise Reus und Großkreuz jeweils doppelt so viele Spieler nach Brasilien wie der gesamte Fußballosten. Trösten daran kann die Fans zwischen Rostock und Erfurt, Halle und Dresden allerdings eine Zahlenreihe bis zurück zum ersten deutschen Titelgewinn von 1954. Nach der werden die Titelchancen der Mannschaft von Jogi Löw mit jedem Ostdeutschen weniger ein wenig größer. Zumindest statistisch gesehen nämlich hat noch nie eine Fußballmannschaft einen WM-Titel gewonnen, in der ein Spieler aus dem Gebiet der ehemaligen DDR stand.