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Fußball K.o.-Tropfen als Warnung: Sexualisierte Gewalt im Stadion

Die Vereine bieten Anlaufstellen. Die Aufmerksamkeit steigt weiter. Kann sexualisierte Gewalt aus dem Fußballstadion ganz verschwinden?

Von Jens Marx, dpa Aktualisiert: 28.03.2023, 11:23
In einem Spiel im März 2019 gegen den FC Bayern setzen sich Fans des SC Freiburg mit einer Choreographie gegen Sexismus im Fußball ein.
In einem Spiel im März 2019 gegen den FC Bayern setzen sich Fans des SC Freiburg mit einer Choreographie gegen Sexismus im Fußball ein. Patrick Seeger/dpa

Berlin - Die jüngsten Warnungen vor K.o.-Tropfen ließen erst recht aufhorchen. Nun auch noch im Fußballstadion? Dort, wo gesungen, gelacht, gejubelt und mitgelitten wird?

„Ich war überrascht, als ich davon gehört habe, weil ich mir das bislang nicht hätte vorstellen können, dass in dieser Heiterkeit und Euphorie des Fußballs K.o.-Tropfen plötzlich eine Rolle spielen“, sagte Fußball- und Fanforscher Harald Lange in einem Gespräch der Deutschen Presse-Agentur. Es sei in gewisser Weise erschreckend, „aber im Grunde auch naheliegend, weil der Fußball letztlich auch nur ein Abbild der Gesellschaft ist mit allen Highlights, aber auch negativen Entwicklungen“. 

Und wie in der Gesellschaft hat sich auch im Fußball noch etwas mit verändert bei derartigen Themen. Es wird darüber gesprochen. Es wird wahrgenommen statt stillschweigend hingenommen. Fanforscher Jonas Gabler beispielsweise sieht keine Zunahme von Vorfällen sexualisierter Gewalt im Stadion. „Ich glaube aber, dass in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit dafür sehr gestiegen ist“, sagte er der dpa. Sogenannte Awareness (Bewusstsein) beziehungsweise Schutzkonzepte von Vereinen helfen dabei.

„Luisa“, „Dächle“, „Lotte“ - wie Vereine helfen

„Durch Awareness soll ein Weg gefunden werden, um Diskriminierungen und grenzüberschreitendes Verhalten zu benennen und diesem Verhalten aktiv entgegenzutreten“, erklärte Antje Hagel vom „Netzwerk gegen Sexismus und sexualisierte Gewalt“ beim Fachtag „Antidiskriminierung und Vielfalt“ des Deutschen Fußball-Bundes und der Deutschen Fußball Liga im Oktober vergangenen Jahres. Beispiele für solche Konzepte sind „Das Dächle“ beim VfB Stuttgart, „Luisa ist hier“ bei Bayer 04 Leverkusen oder „Wo ist Lotte?“ in der Hauptstadt bei Hertha BSC. 

Bei den Konzepten steht der Schutz der Betroffenen im Mittelpunkt. Bei der Hertha tragen die Helferinnen und Helfer beispielsweise pinke Westen, um schnell wahrgenommen zu werden. Ein Rückzugsort steht bereit, dazu auch eine psychosoziale Notfallbetreuung. „Wo ist Lotte“ dient als Codewort. Es soll helfen, die Hemmschwelle zu überwinden und den Vorfall anzusprechen und zu melden. 

Eine Betroffene berichtete dem Berliner Bundesligisten für einen Beitrag auf der Homepage zum Schutzkonzept über einen sexuellen Übergriff beim Einlass ins Stadion. Sie habe den Mann von sich gestoßen und ihn gefragt, was das solle. Sie habe auch laut beschrieben, was er getan hatte und währenddessen Blickkontakt zum umstehenden Security-Personal aufgebaut. „Von den Freunden bzw. männlichen Begleitungen der übergriffigen Person bekam ich folgende Antwort: 'Hab dich mal nicht so. Das ist doch ganz normal als Frau im Fußballstadion'“, berichtete sie. 

„Früher sind Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, wahrscheinlich einfach nicht mehr zum Fußball gegangen, weil sie wenig Chancen gesehen haben, sich zu wehren beziehungsweise Unterstützung vom Verein zu bekommen“, betonte der Berliner Fanforscher und Politikwissenschaftler Gabler. Früher seien betroffene Personen mit ihren Bedürfnissen vergessen worden.

„Dunkelziffer wesentlich höher“

Auf Anfrage erklärte das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, dass keine Zahlen dazu vorliegen würden, wie viele Personen in Fußballstadien von sexueller Belästigung oder Gewalt betroffen sind und wie viele im Nachgang Anzeige erstatten. Der SC Freiburg, der neben dem SV Werder Bremen vor der Länderspielpause vor K.o.-Tropfen gewarnt hatte, registrierte zwei bis drei Fälle von Belästigung im vergangenen Jahr. Die aktive Fanszene spricht von sechs Fällen in der jüngeren Vergangenheit. Vereins-Ansprechpartner Arne Stratmann sagte aber auch: „Ich gehe fest davon aus, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist.“

Experte Gabler von der Kompetenzgruppe Fankulturen und sportbezogene soziale Arbeit hält es dabei nicht für entscheidend, ob es sich um ein jüngeres oder älteres Publikum handelt. „Wir haben eher die Erfahrung gemacht, dass es bestimmte Orte gibt, die gefährlich sind“, berichtete er. Und diese seien dort, wo Gedränge herrsche. „Das sind Risikomomente.“ Gleichzeitig hätten sie erfahren, „dass auch der Business-Bereich ein gefährlicher Ort sein kann und insbesondere das weibliche Personal dort immer wieder mit sexistischen Bemerkungen konfrontiert wird bis hin zu übergriffigem Verhalten“.

Noch immer eine männlich dominierte Kultur 

Der Fußball sei in der Mitte der Gesellschaft angekommen und hole daher auch alle Probleme ins Stadion, befand Lange von der Universität Würzburg. „In der Fankultur geht es traditionell robust zu, gewisse Grenzüberschreitungen, Beleidigungen, beispielsweise im Zusammenhang mit Schmähgesängen gegenüber dem Gegner, den gegnerischen Fans gehören zur Folklore des Fußballs.“

Und ein Merkmal des Fußballs ist nach Einschätzung beider Experten immer noch, dass die Fußball-Kultur insgesamt eine einer sehr männlich dominierte Kultur ist mit traditionellen Männlichkeitsvorstellungen. In einer Oldschool-Fankultur würden sexuell aufgeladene Sprüche irgendwie noch dazu gehören, meinte Lange. 

„Eine andere Rolle spielt die Enthemmung“, betonte Gabler. „Der Alkoholkonsum bei Fußballspielen ist ein Risikofaktor bei sexualisierter Gewalt. Diese Kombination aus Enthemmung durch viel Alkoholkonsum und Männer, die denken sich im Stadion sexistisch verhalten zu können, machen das Fußballstadion schon zu einem Ort, an dem die Gefahr erhöht ist.“ 

Mehr Diversität kann laut Lange bei der weiteren Problembehandlung helfen. Bei praktisch allen Vereinen sei die Entwicklung zu beobachten, dass sie mehr Frauen und mehr Familien für den Stadionbesuch gewinnen wollen. Nach wie vor seien Frauen im Stadion aber unterrepräsentiert, betonte Gabler.