1. MZ.de
  2. >
  3. Sport
  4. >
  5. Fußball
  6. >
  7. "Verräter"-Rufe im Erzgebirge: Empor Lauter: Als die DDR einen Fußballklub nach Rostock umsiedelte

"Verräter"-Rufe im Erzgebirge Empor Lauter: Als die DDR einen Fußballklub nach Rostock umsiedelte

Von Ralf Jarkowski 22.10.2019, 08:46
Torwart Dieter Schneider, hier 1969 bei einer Parade für Hansa Rostock.
Torwart Dieter Schneider, hier 1969 bei einer Parade für Hansa Rostock. imago/Werner Schulze

Rostock - Fünf Tage nach dem fünften Geburtstag beginnt für Dieter Schneider das größte Abenteuer seiner Kindheit: Als der Bus im Erzgebirgs-Dorf Lauter in aller Herrgottsfrühe losrollt, ist der Junge hellwach und begeistert. „Einen Tag vorher haben mir meine Eltern gesagt: Wir fahren an die Ostsee! Natürlich war ich aufgeregt und habe mich gefreut. Dass es kein Zurück gab, das habe ich ja nicht gewusst“, erzählt Dieter Schneider in einem Gespräch der Deutschen Presse-Agentur in seinem Wohnort Warnemünde.

Für Klein-Dieter war damals eher der Weg das Ziel, die Reise ans Meer war spannend. Für die Familie Schneider begann damals, am 25. Oktober 1954, eine neue Zeitrechnung, ein neues Leben - in Rostock. Vom kleinen Dorf in die große Stadt. Ostsee statt Berge. Vater Rudolf Schneider war Fußballer, er kickte in der DDR-Oberliga für die BSG Empor Lauter. Über Nacht wurde aus dem damals 32-Jährigen ein Spieler des SC Empor Rostock - Vorgänger des erst im Dezember 1965 gegründeten FC Hansa Rostock.

DDR-Führung delegiert Empor Lauter nach Rostock

Was war passiert? Weil damals gleich acht sächsische Vereine in der Oberliga mit 14 Mannschaften spielten, beschlossen die DDR-Mächtigen die „Delegierung“ nach Rostock. Denn der Norden war ein großer weißer Fleck auf der DDR-Fußballkarte. In der Hansestadt war gerade das neue Ostseestadion fertig geworden, doch die drei Nordbezirke Rostock, Schwerin und Neubrandenburg hatten keine einzige Oberliga-Mannschaft. Berlin und Babelsberg waren Mitte der 1950er Jahre die nördlichsten Fußball-Bastionen der DDR.

Schließlich wurde es eine Art „freiwillige Zwangsumsiedlung“, die Spieler und ihre Frauen durften sich Rostock vorher anschauen. Eine neue Wohnung, Einkaufsmöglichkeiten, Urlaubsplätze, das Geld stimmte - 15 Spieler wurden mit Versprechungen geködert, elf zogen später um.

Auch Frank Espig war damals fünf, sein Vater Walter stürmte für Empor Lauter. Doch anders als Rudolf Schneider ging der Kapitän damals von Bord. „Das ging alles plitz-plotz, die Mannschaft war noch im Trainingslager, am Sonntag darauf spielte sie schon als Empor Rostock“, sagte Frank Espig in einem dpa-Gespräch.

Nicht alle Spieler machten den Umzug nach Rostock mit

„Alle waren geschockt“, erinnerte sich Espig, der heute in Schneeberg wohnt. „Ich selber habe nichts mitbekommen, meine Eltern haben auch nichts erzählt. Wir sind ja auch geblieben, und die Sache war dann gestorben.“ Gemerkt hat der Bub natürlich trotzdem etwas. Die Espigs und die Schneiders wohnten im selben Haus.

„Und neben uns war plötzlich ein Zimmer leer“, erzählte Frank Espig, der zwischen 1966 bis 1979 für Wismut Aue kickte, nur während seiner Armeezeit Anfang der 70er zwischenzeitlich für Vorwärts Löbau spielte. Der Libero erzielte zwar nur zwei Treffer - darunter war aber das 1000. Punktspieltor für die „Veilchen“ aus dem Erzgebirge.

Walter Espig schloss sich damals der BSG Motor Zwickau an - elf seiner ehemaligen Mitspieler, dazu Betreuer und Trainer stiegen in den Zug nach Rostock. Weil sich die Nacht-und-Nebel-Aktion in Lauter doch noch herumsprach, gab es wütende Proteste: Einwohner sprangen auf die Gleise, die Abfahrt verzögerte sich um Stunden.

Wütende Proteste in Lauter nach Abzug der Fußball-Mannschaft

Nach acht Oberliga-Spieltagen der Saison 1954/55 war Empor Lauter sogar Spitzenreiter, doch das Heimspiel in Schwarzenberg am 24. Oktober (1:0 gegen Rotation Babelsberg) sollte das letzte sein. Am Sonntag darauf, es war der 31. Oktober, mussten die Sachsen laut Spielplan bei Motor Zwickau antreten - doch es reiste Empor Rostock an. Und verlor 1:2. Rostock übernahm alle Punkte und Tore, Empor Lauter war über Nacht aus allen Statistiken verschwunden. Doch mehr als Platz neun sprang am Saisonende für die sächselnden Hanseaten nicht heraus.

Für Dieter Schneider begann eine aufregende Zeit. „Wir sind ja zuerst in ein Hotel gezogen. Das war ein Abenteuer!“, sagte der einstige Torhüter, der dreimal für die DDR-Auswahl spielte. „Bei der Einschulung wusste ich dann: Es dauert wohl länger in Rostock und ist etwas Ernstes.“

Die Schneiders wohnten dann in der Langen Straße, anfangs vermisste Klein-Dieter seine erzgebirgische Heimat, seine Freunde - und die gewohnte Sprache. „In der Schule hat mich keiner verstanden. Ausdruck fünf! Die haben sich totgelacht“, erzählte Schneider, der in den Sommerferien mit seiner Mutter immer zu Oma und Opa nach Lauter fuhr.

Dieter Schneider wurde bei Hansa Rostock zum Kult-Keeper

„Heimweh kannte ich nicht“, versicherte „Schnatz“ (Schneider), dem an der Küste eigentlich nur eine Sache gefehlt hat: „In Lauter konnte ich mehr toben, mich richtig ausleben. Das ging in Rostock nicht.“

Bei Hansa wurde Schneider junior zum Stammspieler, 279 Oberliga-Spiele absolvierte er von 1968 bis 1986 für den letzten Ost-Meister. Bei den Olympischen Spielen 1972 in München stand der Sachse im Aufgebot der DDR-Mannschaft, die Bronze gewann. Er kam aber nicht zum Einsatz. Gemeinsam mit Frank Espig spielte Schneider in der Junioren-Auswahl der DDR. Am vergangenen Sonntag wurde Kult-Keeper Schneider 70 Jahre alt; für Hansa bestritt er 393 Pflichtspiele - die Nummer vier unter den Rekordspielern des Clubs.

In Aue gab es „Verräter“-Rufe für die Rostocker

„Dass viele Spieler und Familien damals nach Rostock gingen, das hat man uns nie verziehen“, berichtete Schneider, „wenn wir in Aue spielten, gab es „Verräter“-Rufe.“ Erst 50 Jahre später haben sich die „Alten“ - Lauterer und Rostocker - versöhnt.

Espig und Schneider, nun beide schon 70, sind dem Fußball treu geblieben - als Fans ihrer Mannschaften. Dieter Schneider war nach seiner aktiven Karriere noch Platzwart im Ostseestadion, sein Sohn ist heute Greenkeeper in einem Rostocker Hotel. Beide haben wohl einen grünen Daumen. Stolz erzählt Schneider in „Guido's Coffeebar“, seinem Stammcafé am Kirchenplatz in Warnemünde: „Auf meinem Rasen kannst du Golf spielen.“ (dpa)