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EM 2016 EM 2016: Benedikt Höwedes und Jonas Hector spielen nicht für die Show

Von Jan Christian Müller 05.07.2016, 19:02
Benedikt Höwedes (l.) und Jonas Hector.
Benedikt Höwedes (l.) und Jonas Hector. imago sportfotodienst

Es ging schon auf Mitternacht zu, es wollte gar nicht aufhören. Acht Leute hatten auf jeder Seite bereits geschossen, und irgendwann waren nur noch zwei deutsche Feldspieler übrig, die zum Elfmeterschießen gegen Italien antreten konnten. Es war vorher abgesprochen gewesen, dass Manuel Neuer sich so lange wie möglich auf das Bällehalten konzentrieren sollte, und so kam es, dass Benedikt Höwedes und Jonas Hector im Mittelkreis standen und sich ohne Zeitverzug einigen mussten. Die beiden sind es gewohnt, im Kreis der Besten unter dem Radar der öffentlichen Wahrnehmung hindurchzulaufen, sie verrichten ihre Arbeit gerne solide im Verborgenen, jeder für sich die Ausgeburt eines Teamspielers.

Aber jetzt musste einer raus ins Scheinwerferlicht zum entscheidenden Schuss, ganz allein, ohne den Schutz der Mannschaft. Jonas Hector hat sich einen Ruck gegeben, „ich habe mein Herz in die Hand genommen“, und irgendwie war der Ball dann sogar drin, und Hector hat, ganz kurz nur, sogar ein paar Emotionen rausgelassen. Dabei sind ihm, genau wie Höwedes, Heldenklischees völlig fremd.

Am Donnerstagabend ab 21 Uhr im Stade Vélodrome von Marseille werden Hector und Höwedes wieder als Mannschaftssportler gefordert sein. Den Gegner hat Bundestrainer Joachim Löw vor dem anstehenden EM-Halbfinale so beschrieben: „Die Franzosen strotzen vor Selbstvertrauen, die Mannschaft hat Dynamik, Kraft und Wucht.“ Und: „Frankreich ist viel weniger ausrechenbar als Italien, weil die Franzosen viel variantenreicher in die Spitze gehen.“

Medial notorisch unterschätzt

Hector und Höwedes sind es gewohnt, an ihren Aufgaben zu wachsen. Der Bundestrainer setzt auf die beiden medial notorisch unterschätzten Überperformer. Hector hat in den Kalenderjahren 2015 und 2016 18 Mal zur deutschen Startelf gehört. So oft wie kein anderer. Es hat nur fast niemand gemerkt. Höwedes hat in 20 Pflichtspielen für Deutschland keine einzige Niederlage miterlebt. Nur zwei Unentschieden. Er nimmt das mit leisem Lächeln zur Kenntnis: „Gute Quote, würde ich sagen.“

Bald nach der Weltmeisterschaft hat Hector sich den Stammplatz von Höwedes geschnappt, den als linker Verteidiger. Höwedes hat nicht lange lamentiert und sich ein neues Plätzchen im Schatten der Berühmtheiten um sich herum gesucht. Er verteidigt jetzt abwechselnd rechts in der Viererkette, zentral als Einwechselspieler oder halbrechts in der Dreierkette wie gegen Italien. Der 28-Jährige sagt über sich selbst: „Ich mache das, was der Bundestrainer sagt. Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich ein totaler Teamspieler bin. Einer, der taktische Disziplin, totalen Ehrgeiz und unbedingten Willen mit reinbringt.“ Löw will diesen Typen nicht missen und nimmt dafür technische Defizite in Kauf. Der Bundestrainer gerät direkt ins Schwärmen: „Benni ist ein großartiger Zweikämpfer. Er ist immer da, wenn man ihn braucht, so einer ist sehr wertvoll für einen Trainer.“ Wenn dieser Siegfried des deutschen Defensivverbundes, der sich nach der WM 2014 ein paar blonde Haare auf den Kopf verpflanzen ließ, ausnahmsweise mal nicht gebraucht wird, macht er kein großes Aufhebens darum. Als der junge Joshua Kimmich ihm im letzten Gruppenspiel gegen Nordirland auf der rechten Verteidigerposition vorgezogen wurde, hat Höwedes sein Verständnis für die nachvollziehbare Entscheidung ausgedrückt.

Das beste Angriffstrio Europas

Er ist dafür medial mehr gefeiert worden als für eine saubere Grätsche an der Strafraumgrenze. Hinterher hat er seine Verwunderung darüber zum Ausdruck gebracht: „Offen gestanden, bin ich schon ein wenig erstaunt gewesen. Fußball ist ein Mannschaftssport – das haben offenkundig einige immer noch nicht verstanden.“

Die Vorzüge des Mannschaftssports deutscher Interpretation werden nun ganz besonders gegen Männer wie Olivier Giroud, Dimitri Payet, Antoine Griezmann und Paul Pogba gefordert sein. Die Experten in Frankreich sind sich weitgehend einig: Giroud, Griezmann und Payet bilden das beste Angriffstrio Europas. Und Pogba rammt seinen gewaltigen Körper regelmäßig zwischen diesen Dreien hindurch. „Wir wissen, an welchen Stellen wir uns helfen müssen“, sagt Höwedes. Er ist den typischen Karriereweg eines besonders begabten Jugendlichen gegangen: als 13-Jähriger von seinem Heimatverein TuS Haltern ins Leistungszentrum von Schalke 04 inklusive sämtlicher Entbehrungen der Talentzüchtung; 2009 mit Jérôme Boateng Stammkraft in der Innenverteidigung der U21-Nationalmannschaft, die in Schweden Europameister wurde.

Jonas Hector hat seinerzeit noch unerkannt in der U19 beim saarländischen Amateurklub SV Auersmacher nicht weit von der französischen Grenze gekickt. Ein Spätentwickler, der durch sämtliche Raster der Hochbegabtenförderung fiel und dafür sogar eine Erklärung hat: „Ich habe sehr spät einen Sprung im Wachstum gehabt, vorher hatte ich Schwierigkeiten, körperlich mitzuhalten.“ Erst mit 20 wechselte der extrem zurückhaltende Hector als Offensivspieler aus der Oberliga Südwest in das Regionalligateam des 1. FC Köln, ohne dort sofort für Aufsehen zu sorgen. Trainer Dirk Lottner wies ihm irgendwann die Position links in der Defensive an, eine ausgesprochen gute Idee. Hector macht sich nichts vor: „Wenn ich nicht die Position gewechselt hätte, wäre ich heute nicht hier.“ Mittelfeldspieler seiner Qualität gibt es in Deutschland genügend. Verteidiger, noch dazu linke, dagegen nicht.

Keine Überdinger, aber auch wenig Böcke

Erst mit 24 debütierte er in der Bundesliga. Es ist eine Karriere, die es eigentlich gar nicht mehr geben dürfte im eng gestrickten Netzwerk der Späher und Berater. Rückblickend sagt Hector: „Ich möchte meine Jugendzeit mit Freunden zu Hause nicht missen.“ Es ist nicht so, dass er als Kind nicht von einer Karriere als Profispieler geträumt hätte. Aber es war wirklich nur ein Traum.

Vielleicht sind ihm die Aufgeregtheiten des Unterhaltungsbetriebs Profifußball bis heute verdächtig geblieben, weil er im 2 500-Seelen-Nest Auersmacher so normal auswuchs. „Ich musste mich nach dem Abi umgucken, was ich mache. Damals gab es auch noch den Wehrdienst.“ Den mochte er nicht: „Das heißt, ich musste ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren. Danach hätte ich mich auch umschauen müssen. Studium, Job? Zum Glück kam der Fußball dazwischen.“

Hector hat nebenbei noch ein BWL-Studium angefangen, und jetzt kommt das Halbfinale gegen Frankreich auch irgendwie „dazwischen“ auf dem Weg zum Endspiel in Paris. Er plant, seinen Job in der gewohnten Zuverlässigkeit zu erledigen, gemäß seines Credos: „Ich mache zwar keine Überdinger, schieße aber auch relativ wenig Böcke.“ Den Satz hätte Benedikt Höwedes nicht besser formulieren können.