EM 1984 EM 1984: Maceda trifft und Derwall geht
Köln - Kein Tor ist bisher gefallen, die 90. Minute läuft schon, die Konstellation bleibt günstig für die Deutschen gegen Spanien im letzten Vorrundenspiel. Das Halbfinale der Europameisterschaft 1984 ist nahe, und die deutsche Nationalmannschaft scheint ihren typischen Turnier-Weg zu gehen - bis zum Ende dabei. Doch diesmal, in einer schwül-warmen Juni-Nacht im Pariser Prinzenparkstadion, geht es dann doch nicht gut. 89 Minuten und 20 Sekunden sind gespielt, von rechts flankt der Spanier Juan Señor aus Saragossa. Der Ball fliegt in einem Bogen nach innen, über Francisco Carrasco vom FC Barcelona hinweg, der von den deutschen Abwehrspielern Karl-Heinz Förster und Uli Stielike bewacht wird. Und hinten jagt der große blonde Antonio Maceda, Libero von Sporting Gijon, dem Ball am zweiten Pfosten entgegen. Alleine. Frei. Kopfball im Fallen. Volle Wucht. Perfekt getroffen. Tor. Es steht 0:1. Dabei bleibt es.
Deutschland, der Titelverteidiger, ist ausgeschieden, ein Unentschieden hätte zum Weiterkommen gereicht. Das Turnier in Frankreich und jener 20. Juni 1984 bilden deshalb ein nationalelfhistorisches Ereignis und markieren einen bitteren deutschen EM-Moment: Erstes Vorrunden-Aus bei einem großen Turnier.
Harald Schumacher (62), damals Torhüter der Deutschen, jetzt Vize-Präsident des 1. FC Köln, seines damaligen Klubs, trinkt gerade im Geißbockheim ein Glas Wasser und kramt in den Erinnerungen an die Nacht von Paris. "Dran gewesen bin ich noch an Macedas Kopfball", sagt er, aber es sei letztlich nichts zu machen gewesen. Nach dem Duschen geht Schumacher zusammen mit Bundestrainer Jupp Derwall (damals 57) noch einmal hinaus auf das Spielfeld. Und "obwohl ich Nichtraucher bin, haben der Jupp und ich uns eine Zigarette angemacht. Da haben wir erst mal zusammen eine geraucht. Um den Jupp hat es mir leidgetan." Denn der Jupp ist nicht mehr zu halten. Sechs Tage später erklärt er seinen Rücktritt.
Frankreich erlebt 1984 die siebte EM und die zweite mit acht Endrundenteilnehmern, die in zwei Vierer-Gruppen jeweils zwei Halbfinalisten ausspielen. Die ersten beiden Turniere - 1960 und 1964 - hat der DFB noch ausgelassen, keine Teilnahme. Die Endrunde 1968 erlebt die deutsche Elf dann trotz aufgegebener Abstinenz nicht, sie scheitert in der Qualifikation. Auch das ist ein heftiger Zwischenfall, doch der verantwortliche Bundestrainer Helmut Schön darf weitermachen. Anschließend ist das deutsche Team stets dabei, gewinnt 1972 (mit Schön) und 1980 den EM-Titel und erreicht 1976 das Finale. Dann kommt 1984 - und das erste Scheitern in der Vorrunde bei erfolgter Qualifikation für ein Endturnier. Das hat es zuvor auch bei Weltmeisterschaften nicht gegeben. Dort ist eine DFB-Delegation aber auch einmal früh gescheitert. 1938 jedoch gibt es keine Vorrunde, das Turnier beginnt gleich mit der Hauptrunde, dem Achtelfinale. Deutschland unterliegt der Schweiz im Wiederholungsspiel mit 2:4 und ist draußen.
Jetzt aber, in Paris, ist die Wucht der Pleite sehr groß, zumal der Titelverteidiger und Vize-Weltmeister ausgeschieden ist. Die deutsche Elf ist in jenen Tagen in "desolatem Zustand", schreiben Dietrich Schulze-Marmeling und Hubert Dahlkamp in ihrer "Geschichte der Fußball-Europameisterschaft". Schon die Qualifikation für Frankreich wäre der Nationalelf fast misslungen. Zweimal verliert Derwalls Elf dabei gegen Nordirland. Am Ende setzt sich Deutschland nur wegen des besseren Torverhältnisses gegenüber den Nordiren durch.
In Frankreich schleppt Derwall zudem die Hypothek des peinlichen Auftritts bei der Weltmeisterschaft 1982 in Spanien mit - dazu gehört neben der Vorrunden-Pleite gegen Algerien auch das fürchterliche Spiel, das Deutsche und Österreicher zu Lasten der Algerier in Gijon boten. Weil beiden der deutsche 1:0-Erfolg zum Weiterkommen reichte, stellten sie nach dem frühen Torerfolg den Spielbetrieb ein. Schulze-Marmeling und Dahlkamp stellen fest: "Der Vize-Weltmeister von 1982 war der unbeliebteste der WM-Geschichte." Gemeint ist Deutschland.
Schon während der Partie gegen Nordirland Mitte November 1983 (sie endet mit 0:1) sind "Derwall raus"-Rufe in Hamburg zu hören. Und noch am Tag vor dem EM-Beginn stellt DFB-Präsident Hermann Neuberger klar, dass Derwalls Vertrag 1986 enden werde - komme, was wolle. Derwall tobt: "Eine ekelhafte Sache! Sportlich gesagt: unfair und destruktiv." Bereits im März 1984 hat Derwall nach Kritik im Anschluss an einen Erfolg gegen die Sowjetunion offenbar bereits seinen Rücktritt angeboten - was erst nach dem Turnier bekannt wird. Da sagt Derwall: "Auf mich wurde ein solcher Druck ausgeübt, die Mannschaft wurde mit einem solchen Ballast konfrontiert, dass unter dem Strich kaum noch etwas Positives herauskommen konnte. Für mich war es ein Ankämpfen gegen das gesamte Umfeld, und deswegen wollte ich Konsequenzen ziehen."
Insgesamt wird ein spielerisches Defizit konstatiert, ein tauglicher Regisseur fehlt. Bernd Schuster (24), die Entdeckung des Turniers von 1980, ist verletzt. Später erklärt er dann seine DFB-Karriere für beendet. Derwall stellt in Frankreich in seiner Not im Auftaktspiel gegen Portugal den Stürmer Karl-Heinz Rummenigge (FC Bayern, damals 28) ins Mittelfeld - es geht schief. Das Spiel endet 0:0, Schulze-Marmeling und Dahlkamp werfen der deutschen Auswahl "katastrophalen Fußball" vor. Das Fußballmagazin "Kicker" hat sogar einen "Rückfall in schlimmste Zeiten" beobachtet. Vor dem zweiten Spiel gegen Rumänien stellt Derwall seine Elf um. Rummenigge kehrt in den Sturm zurück - und es läuft besser. Zwei Tore von Rudi Völler bringen den Deutschen einen 2:1-Sieg und eine komfortable Ausgangssituation: Ein Remis würde im letzten Gruppen-Match gegen Spanien schon reichen, um ins Halbfinale einzuziehen. Es klappt nicht.
Der "Kicker" attestiert Schumacher nach der Spanien-Partie, bester deutscher Spieler gewesen zu sein. Selbstverständlich ist das nicht, denn der Torhüter des 1. FC Köln reist mit einer Vorbelastung nach Frankreich: Sein brutales Foul im Halbfinale der WM 1982 an dem Franzosen Patrick Battiston ist noch nicht vergessen. Schumacher hatte sich damals in Sevilla nicht auf dem Platz um den verletzten Battiston gekümmert ("Das war Feigheit", schrieb er 1987 in seinem Buch "Anpfiff"). Und nach dem Match noch einen unüberlegten Satz gesagt, wonach er Battiston, der ein Schädeltrauma mit Bewusstlosigkeit, einen Halswirbel-Haarriss sowie vier zerbrochene Zähne hinnehmen musste, die Jacketkronen bezahlen werde. In Frankreich galt Schumacher noch 1984 laut einer Umfrage als der unbeliebteste Deutsche - obwohl er sich längst mit Battiston ausgesprochen und versöhnt hatte.
Frankreich, das in der anderen Vorrundengruppe spielte, hoffte auf ein Treffen mit den Deutschen im Halbfinale oder Endspiel, um Revanche nehmen zu können für Sevilla. Dort scheiterten die Franzosen 1982 im Elfmeterschießen an der DFB-Auswahl (Schumacher hielt damals zwei der finalen Strafstöße). Doch dazu sollte es nicht kommen. Frankreich holte auch ohne die avisierte Revanche den Titel - mit Battiston übrigens.
Schumacher jedoch hat im April 1984 bereits in Straßburg und damit im Land seiner Gegner gespielt - beim 0:1 der Deutschen gegen Frankreich. Das Aufwärmen wird zur Tortur: "Schreie, Pfeifkonzert. (...) Ein Hagelregen von Eiern, Kartoffeln, Äpfeln, Steinen empfing mich", schreibt er in seinem Bestseller "Anpfiff". Doch die harte Therapie wirkt: "Ich habe eine Riesen-Partie gespielt. Die Leute sind aufgestanden und haben applaudiert." Schumacher weiß jetzt: Die EM kann kommen. Schlimmer kann es für ihn nicht mehr werden.
In Frankreich, findet Schumacher, "war das Thema dann durch. Es gab immer noch Pfiffe gegen mich. Aber es war nicht mehr so schlimm." Und seine Mannschaft, das Aus, die Blamage? "Ach, 1984 haben wir insgesamt nicht gut gespielt. Nach dem Aus waren wir alle am Boden zerstört", sagt Schumacher. Das Spanien-Spiel sei aber auch ganz dumm gelaufen, zumal die Deutschen ihr bestes Turnierspiel zeigen. In der ersten Halbzeit köpft Hans-Peter Briegel zweimal an die Latte, Andreas Brehme trifft den Pfosten. Schumacher hält gleichwohl auch einen Elfmeter von Carrasco. Nach dem Wechsel scheitert Rummenigge aus zehn Metern an Spaniens Torhüter Luis Arconada. Der damalige Mönchengladbacher Lothar Matthäus sowie Klaus Allofs und Pierre Littbarski (beide waren 1984 Spieler des 1. FC Köln) haben noch große Chancen. Doch niemand trifft. Außer Maceda in der 90. Minute. Aus. Kein Halbfinale. Abreise.
Kapitän Rummenigge sieht in dem Scheitern "eine Schmach für den deutschen Fußball". Schulze-Marmeling und Dahlkamp bilanzieren: "Der deutsche Fußball befand sich in seiner schwersten Krise nach dem Zweiten Weltkrieg." Die französische Zeitung "Libération" wird drastisch: "Dieses wilde Tier, das der deutsche Fußball ist, verdiente an diesem Abend, im eigenen Urin ertränkt zu werden. (...) Das deutsche Monster hat zu lange überlebt, seit mehreren Spielzeiten, seit mehreren internationalen Wettbewerben. Sie hatten schon die peinliche Einbildung, dass die Geschichte in ihrem Sinne laufen würde, dass es das Schicksal immer gut meint mit dem deutschen Fußball."
Derwalls späterer Nachfolger Franz Beckenbauer nimmt ebenfalls Stellung: "Was wir in Frankreich in drei Spielen von der deutschen Mannschaft erlebt haben, war grausame Wirklichkeit. Kein Zufall, kein Pech. Wir gehören da oben nicht mehr hin." Beckenbauer bleibt schließlich bis 1990 Teamchef und wird in jenem Jahr Weltmeister. Mit fünf Spielern, die in Frankreich dabei gewesen sind: Matthäus, Brehme, Littbarski, Völler und Guido Buchwald.
Eine deutsche Elf ist noch zwei weitere Male nach der Vorrunde eines EM-Turniers gescheitert: 2000 unter Erich Ribbeck und 2004 unter Rudi Völler. Beide Male musste sich der DFB anschließend - wie schon 1984 - neue Trainer suchen.