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"Größte Fehler nach Wende gemacht" Dynamo Dresden 1995: Lizenzentzug versetzte DDR-Traditionsverein den Todesstoß in Fußball-Bundesliga

05.05.2020, 05:31
Der umstrittene Dynamo-Präsident Rolf-Jürgen Otto.
Der umstrittene Dynamo-Präsident Rolf-Jürgen Otto. imago/Ferdi Hartung

Dresden - Die Krise gibt Ralf Minge Recht. „Ich bin nicht Dynamo, aber ich lebe Dynamo. Deswegen betrachte ich jeden Euro so, als ob es mein eigener wäre. Jedes Mitglied, jeder Angestellte ist für mich Familie. Das hat mich über die Jahre geprägt“, sagt der Sportgeschäftsführer von Dynamo Dresden. Minge sieht sich in seinem Sparkurs der vergangenen Jahre bestätigt, für den der selbst ernannte „Schotte“ noch vor einigen Monaten viel Kritik hatte einstecken müssen.

Minge ist geprägt von einer Zeit, die wohl zu der schwärzesten der inzwischen 67 Jahre währenden Vereinsgeschichte zählt. Am 6. Mai 1995 wurde dem 1. FC Dynamo Dresden vom Deutschen Fußball-Bund (DFB) die Lizenz verwehrt – bis heute einmalig für einen Erstligisten. Minge, damals Interimstrainer, erinnert sich mit „große Schmerzen“, aber nach 25 Jahren mit „geheilten Wunden“ zurück. „Letztendlich war das nur der Tag, an dem der Todesstoß kam“, erklärt der 59-Jährige sachlich. „Der Patient war im Vorfeld schon schwer krank.“

Lizenzentzug 1995: Patient Dynamo Dresden war schon lange erkrankt

Bereits in der Saison zuvor wurden dem achtmaligen DDR-Meister wegen Verstößen gegen die Lizenzauflagen unter anderem vier Punkte abgezogen. Dynamo hielt dennoch die Klasse, was ein Jahr später nicht nur sportlich, sondern auch wirtschaftlich endgültig nicht mehr möglich war. Aufgrund ausstehender Verbindlichkeiten von zehn Millionen Mark blieb nur der Gang in die Drittklassigkeit.

Als Hauptschuldiger gilt vielen Dynamos damaliger Präsident Rolf-Jürgen Otto. Der inzwischen verstorbene Bauunternehmer aus „dem Westen“ kam Anfang der Neunziger nach Dresden, machte sich mit dem Bau von Wohnsiedlungen eine Namen, zog für die FDP in den Dresdner Stadtrat und stieg zum Präsidenten des Traditionsclubs auf. Den Lizenzentzug nahm Otto persönlich.

„Wir lassen uns nicht durch die kalte Küche abschieben. Wir werden den Fehdehandschuh, den der DFB geworfen hat, aufnehmen. Bisher waren wir sehr zurückhaltend. Das wird sich jetzt ändern“, sagte Otto damals.

Dynamo Dresdens Lizenzentzug: „Größten Fehler wurden nach der Wende gemacht“

Minge jedoch sieht die Gründe viel früher. „Die größten Fehler wurden nach der Wende gemacht. Wir hatten eigentlich super Voraussetzungen, auch wenn wir 1990 durch den Verlust von fünf Nationalspielern einen herben Schlag hinnehmen mussten“, erklärt der frühere Dynamo-Stürmer. Nach dem Mauerfall fand sich der Verein in einer neuen Welt wieder. Spielertransfers, Sponsoren- und Fernsehgelder überforderten die Verantwortlichen.

„Der Fehler bestand jedoch darin, es unter völlig neuen gesellschaftlichen Voraussetzungen, ohne das notwendige Know-how einfach mal zu probieren. Dadurch sind Abhängigkeiten und wirtschaftliche Zwänge, unter anderem durch die Vermarktungsverträge mit Sorad, entstanden, durch die wir uns faktisch verkauft hatten“, analysiert Minge. Mit der Saarbrücker Sportmarketingfirma Sorad war Dynamo eine knebelartige Verbindung eingegangen, die den Club 40 Prozent der Einnahmen kostete.

Auch in den Folgejahren bleibt Dynamo ein gebranntes Kind. Wie ein roter Faden ziehen sich die gleichen Fehler durch die Saisons. Zu freigiebig wurde teilweise nicht vorhandenes Geld ausgegeben. Dass es den Verein überhaupt noch gibt, ist auch ein Verdienst des „Schotten“. Minge verweist lieber auf „ein Werk von vielen, nicht zuletzt von der aktiven Fanszene, den Mitgliedern und den Sponsoren des Vereins.“

Corona-Krise: Ralf Minge hat kein Verständnis für Pleite-Klubs im Profi-Fußball

Nach dem Drittliga-Abstieg 2014 suchte sich Dynamo eine neue Überschrift. Es galt, den Verein zu entschulden. Gut 25 Jahre nach dem „Todesstoß“ ist er nicht nur schuldenfrei, im vergangenen Geschäftsjahr 2018/19 wurde ein Umsatz von mehr als 35 Millionen Euro und ein Überschuss von über 4,5 Millionen Euro erwirtschaftet. Das Eigenkapital des Vereins ist auf mehr als 9,4 Millionen Euro angewachsen. Ein Plus, dass Dynamo auch die aktuelle Krise überstehen lässt und Möglichkeiten für professionelle Rahmenbedingungen schafft.

Umso mehr Unverständnis bringt Minge für die 13 Erst- und Zweitligisten auf, denen aufgrund der aktuellen Spielpause der wirtschaftliche Untergang droht. „Vielleicht ist meine Herangehensweise etwas zu extrem in die andere Richtung gewesen, aber auf Gedeih und Verderb Fernsehgelder an die Bank zu verpfänden oder zu verbrauchen, dafür habe ich kein Verständnis“, erklärt Dynamos Sportgeschäftsführer und spricht von einem „Sturm“, in dem sich der Profifußball derzeit befinde. „Wenn ich diesen aber nach drei Wochen bereits nicht mehr aushalte, müssen andere Fehler gemacht worden sein.“ (dpa)