Wissenschaft Wissenschaft: Spektakulär und unheilvoll zugleich

Berlin/dpa. - Es ist einer der spektakulärsten wissenschaftlichenErfolge des vergangenen Jahrhunderts - und einer der unheilvollsten:Die Entdeckung der Kernspaltung vor 70 Jahren in Berlin. Mit ihrerHilfe versorgen unzählige Kraftwerke noch heute Millionen vonMenschen mit Strom. Doch auch die Atombombe konnte so entwickeltwerden. Davon ahnte der Chemiker Otto Hahn allerdings nichts, als eram Abend des 19. Dezembers 1938 im heutigen Institut für Biochemieder Freien Universität Berlin einen Brief an seine vor denNationalsozialisten geflohene Forscherkollegin Lise Meitner schriebund von einem scheinbar seltsamen Befund bei ihren gemeinsamenExperimenten berichtete. Erst Meitner verstand im schwedischen Exil,was Hahn ihr da schrieb: Wird ein Urankern mit Neutronen beschossen,zerbricht er und setzt Energie frei.
Dieser wissenschaftliche Durchbruch kam für die Wissenschaftlerüberraschend, hatte sich zuvor doch nur eine große Enttäuschungangekündigt: Hahn und Meitner experimentierten bereits viele Jahre inihrem Labor im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie im schmuckenVillenviertel im Süden Berlins. Beide waren anerkannte Forscher. Hahngalt als sehr korrekter Chemiker, die Physikerin Meitner war durchden sogenannten Beta-Zerfall - eine bestimmte Form der Radioaktivität- berühmt geworden.
«Seit Beginn der 30er Jahren führten die beiden auch Experimentemit Uran durch», berichtet der Physiker und WissenschaftshistorikerErnst Peter Fischer von der Universität Konstanz. Hahn und Meitnerbeschossen gemeinsam mit ihrem Kollegen Fritz Straßmann Urankerne mitNeutronen. «Die Idee dahinter war, dass das Neutron vom Urankerneingefangen und dieser dadurch größer wird.» ReineGrundlagenforschung also. Doch irgendwie wollten die Experimentenicht gelingen, es entstanden einfach keine erhofften «Transurane».
Mit dem Erstarken der Nationalsozialisten wurde es für die JüdinMeitner zu gefährlich in Berlin. Sie floh 1938 nach Schweden und ließHahn und ihre gemeinsamen Experimente zurück. «Da hat Hahn gemacht,was Chemiker gut können: Er hat gemessen, was bei den Versuchen genaupassiert ist», sagt Fischer. Dabei fiel ihm etwas Sensationelles auf:Beim Versuch, mit Neutronen auf Uran zu schießen, war Bariumentstanden - und Barium ist nur halb so groß wie Uran.
«Hahn war die Sache völlig unverständlich», erzählt Fischer.Deswegen schrieb Hahn am 19. Dezember 1938 den besagten Brief anMeitner, wie das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichteerläutert, das auch daraus zitiert: «Es ist nämlich etwas bei den"Radium-Isotopen", was so merkwürdig ist, daß wir es vorerst nur Dirsagen. (...) Vielleicht kannst Du irgendeine phantastische Erklärungvorschlagen.»
Kurz vor Weihnachten, am 21. Dezember, kam dieser Brief beiMeitner an. «Zuerst war sie sich sicher, dass Hahn sich vertan hat»,beschreibt Fischer die Situation. Doch Meitner war auch überzeugt:Wenn Hahn das so schreibt, dann wird es stimmen. Sie schlussfolgertedaher richtig, dass sich der Urankern gespalten hatte.
«Das war ein sehr dramatischer Moment», schildert Fischer inseinem Hörbuch «Paarläufe der Wissenschaft». «Stellen Sie sich vor:Eine 60-jährige, einsame, vertriebene Frau, im tiefen Winter in einemverschneiten Dorf, kurz vor Weihnachten, hat einen Brief in der Handund eine Rechnung im Kopf - und weiß jetzt, dass man die Weltzerstören kann, weil sie jetzt weiß, dass man Atombomben bauen kann.»
Sie sollte Recht behalten. Schon 1945 warfen die US-AmerikanerAtombomben auf die japanischen Städte Hiroshima und Nagasaki, mitverheerenden und bis dahin unvorstellbar schrecklichen Folgen.
Doch die Entdeckung der Kernspaltung eröffnete der Menscheit aucheine enorme, friedliche Energiequelle, die in vielen Kernkraftwerkenweltweit bis heute genutzt wird.
Trotz dieser revolutionären Entdeckung steht Meitner aber nochimmer im Schatten von Hahn. In der Literatur ist meist zu lesen, Hahnhabe zusammen mit Straßmann die Kernspaltung entdeckt. Dafür bekamHahn auch den Chemie-Nobelpreis 1944.
«Meitner dagegen gilt oft noch immer als Hahns Mitarbeiterin, dienur eine simple Rechnung durchgeführt hat», sagt Fischer. «InWirklichkeit war es aber anders: Sie hat das Wissen gehabt, er hatdie Versuche durchgeführt.» Die Entdeckung der Kernspaltung sei alsodas Ergebnis der einzigartigen Zusammenarbeit von Hahn und Meitner.Dass die Physikerin dennoch keinen Nobelpreis bekam, bezeichnetFischer schlicht als «Dummheit der schwedischen Akademie».

