USA USA: Ratten in New York bilden eine Parallelgesellschaft

New York/dpa. - Also stellte er den Käfig samt Ratte in seine Wanne und ließ das Wasser laufen. Nach zweieinhalbMinuten trieb sein Opfer leblos auf dem Rücken. «I bin einRatten-Killer», gibt er freimütig zu. In New York muss man manchmal zur Selbsthilfe greifen, um sich der Plage zu erwehren. Die selbst ernannte «Hauptstadt der Welt» gilt als auch «Ratropolis», als Welthauptstadt der Ratten.
Immer wieder hört und liest man, dass in New York auf jedenEinwohner eine Ratte komme. Das wären dann 8,5 Millionen. DochExperten sagen: Niemand hat die geringste Ahnung, wie viele Ratten esin New York gibt. Die Faustregel «Eine Ratte pro Einwohner» geht aufeine Studie auf dem englischen Land aus dem Jahr 1909 zurück. Siewar schon damals höchst zweifelhaft, lässt sich aber ganz gewissnicht auf heutige amerikanische Großstädte übertragen.
Einigkeit besteht hingegen darüber, dass es in New York mehrRatten gibt als an den meisten anderen Orten. «Keine Frage, wir habenein Rattenproblem», sagt Bürgermeister Michael Bloomberg. Allein imvergangenen Jahr hat die Zahl der Klagen über Ratten bei einerstädtischen Beschwerdestelle um 40 Prozent auf 31 600 zugenommen.«Wenn ich durch Paris spaziere, sehe ich keine Ratten umherrennen»,sagt Katia Kelly (45), die in Wolfenbüttel geboren, in Frankreichaufgewachsen und nun schon seit 30 Jahren in New York ansässig ist.Vielleicht hat es damit zu tun, dass New York ein Archipel ist, eineStadt im Meer - und am Wasser gibt es immer mehr Ratten. In den20er Jahren schlugen Wissenschaftler vor, rund um Manhattan eine hoheMauer zu bauen, um den Ratten den Weg vom Hafen in die Stadt zuversperren.
Katia Kelly ist eine Frau, die viel lacht, auch wenn es um Rattengeht. In einem Halloween-Shop hat sie zwei große Monsterratten ausGummi gekauft, mit denen sie manchmal in der Öffentlichkeit auf dasRattenproblem in ihrem Viertel aufmerksam macht. «Es fing letztesJahr an», erinnert sie sich bei einem Spaziergang durch Carroll Park,einer gepflegten Grünanlage, die von typischen BrooklynerReihenhäusern mit Treppenaufgang zur Haustür eingerahmt wird. Aufeiner Bank sitzt eine alte Dame und ruht sich vom Einkaufen aus, aufdem Spielplatz schaukeln zwei Kinder. Doch an den Zäunen hängenWarnschilder mit der Aufschrift «Vorsicht - Rattengift!»
«Wir haben hier eine absolute Ratten-Explosion mitgemacht», sagtKatia. «Erst waren da die Löcher im Boden. Dann fanden wir auchLöcher in den Bäumen. Und auf einmal hatten wir überall Löcher.»Ratten vermehren sich rasend schnell. Wenn sie nicht fressen, habensie Sex - etwa 20 Mal am Tag. Bei ausreichender Versorgungslage kanneine Rättin im Jahr bis zu 20 Mal werfen - jeweils acht bis zehnJunge. Aus zwei Ratten können so innerhalb eines Jahres 15 000 Rattenwerden.
Ratten bilden eine Parallelgesellschaft ganz eigener Art, führeneine Schattenexistenz im direkten Lebensumfeld des Menschen. Siebevölkern die Unterwelt - Keller, Abwasserrohre und U-Bahn-Schächte- sie leben in hierarchisch gegliederten Gruppen zusammen, und siefressen das, was die Menschen ihnen hinwerfen: Pizzaränder,Hühnchenknochen, Hamburgerreste. Dazu trinken sie Kaffee - amliebsten gezuckert - Cola, Bier oder Wein. Betrinken sie sich auchmal? Vermutlich.
Katia Kelly glaubt, dass die Ratteninvasion im Carroll Park mitder Neueröffnung vieler Restaurants in einer angrenzenden Straße zutun hat. Oft wird der Abfall abends in Plastiktüten auf die Straßegestellt. Die Lokale ziehen so viele Besucher an, dass die Mülleimeram Straßenrand schon am späten Vormittag überquellen. «Einmal habenwir eine Ratte am hellichten Tag mit einem Stück Pizza im Mund überdie Straße laufen sehen.» Zur Not fressen Ratten aber auch Seife,Leder, Papier und Holz.
Vielleicht ist keine andere Spezies so gut an das Leben imGroßstadtdschungel von New York angepasst wie Rattus Norvegicus, dieWanderratte, die vor zweihundert Jahren auf europäischen Schiffen indie Neue Welt kam. Sie findet ihren Weg zielsicher durch einLabyrinth von Gassen, Tunneln und Spalten - auch wenn es stockdunkelist. Sie kann das, weil sie sich daran erinnert, wie sich ein Weganfühlt - der Asphalt oder Beton unter ihren Füßen, die imVorbeihuschen gestreifte Wölbung eines Abwasserrohrs. Sie klettertwie ein Eichhörnchen senkrechte Wände empor, überlebt Stürze aus 15Metern Höhe unverletzt, schwimmt durch Abwasserkanäle und taucht inKlosettschüsseln auf.
Aber die Ratte gehört auch zu den intelligentesten Tieren, wie imVersuch immer wieder nachgewiesen wurde. Erst vor wenigen Wochenveröffentlichte die Universität Göttingen eine Studie, wonach Rattendie Folgen ihres Handelns voraussehen und kausal denken können.Bisher glaubte man, dass dazu allein der Mensch fähig sei.
Der Geruchssinn der Ratte ist so gut entwickelt, dass sie einenGiftpartikel auf eine Million Teilchen erschnüffelt. Babys undKleinkinder werden deshalb überschnittlich oft von Ratten ins Gesichtgebissen, weil diese winzige Nahrungsreste am Mund wahrnehmen.Allerdings werden jedes Jahr zehn Mal mehr New Yorker von Menschenals von Ratten gebissen.
Judy Rayner aus Brooklyn lässt sich von dieser Statistik nichtbeeindrucken: «Ich habe eine Dreijährige, und ich will nicht mehr,dass sie im Park herumläuft.» Die Psychotherapeutin Sara Weber (58),die in ihrer Freizeit das Komitee zur Verschönerung des Carroll Parksleitet, führt aus: «Ratten werden mit dem Tod in Verbindung gebracht.Mittelalter, Pest und so was. Das sind ganz primitive, tiefsitzendeSachen. Ratten sind keine Eichhörnchen. Sie fressen unsereBlumenzwiebeln, unsere 150 Jahre alten Bäume, unsereBewässerungsanlage. Sie sind sehr destruktiv.»
Nach einer vorsichtigen Schätzung lassen sich 26 Prozent allerKabelbrüche in New York auf Ratten zurückführen. Ratten brauchenimmer etwas zu beißen. Ihre Zähne sind härter als Aluminium, Kupfer,Blei oder Eisen; sie sind so hart wie Stahl. Und New Yorker Rattenwaren immer schon eine Spezies für sich. Sie sind größer undaggressiver als ihre Verwandten außerhalb der Metropolis - sagenzumindest örtliche Kammerjäger, denen ein gewisses Eigeninteresse amMythos der New Yorker «Über-Ratte» unterstellt werden muss. Katzenwürden mit ihnen jedenfalls nicht fertig, versichern sie. Eineausgewachsene Ratte wird am Hudson bis zu einem halben Kilogrammschwer und so groß wie ein Männerfuß - den Schwanz nichtmitgerechnet.
Ihr einziger Feind ist der Kammerjäger, und auch der ist ihr oftnicht gewachsen. Der erste, den Katia Kelly und ihre Nachbarnengagierten, warf ein Paket Gift in einen Rattenbau; am nächsten Taglag es unversehrt wieder draußen. «Warum sollten die Ratten Giftfressen, wenn sie Pizza haben können?» fragte Sara Weber denerfolglosen Jäger. Danach geschah lange Zeit nichts mehr. Dann hatteSara die Idee, die Öffentlichkeit zu mobilisieren: Am «Tag derStadtparks» veranstaltete das Komitee im Carroll Park ein«Ratten-Festival» - mit einem Ratten-Rennen und einer Ratten-Jagd fürdie Kinder und Weingummiratten als Preisen. Die «New York Times»berichtete halbseitig. Am nächsten Tag rief das Büro vonBürgermeister Bloomberg an, und binnen Wochenfrist rückten diestädtischen Rattenfänger aus. Nun bekamen es die Untergrundbewohnerdes Parks mit Profis zu tun.
Die Stadt New York plant in ihrem Haushalt seit dem 19.Jahrhundert einen festen Posten zur Ratten-Bekämpfung ein. Der ersteNew Yorker Rattenfänger, der weit über die Grenzen der Stadt hinausbekannt wurde, war der gebürtige Bayer Frederick Wegner. Als es 1893eine Rattenplage im Central-Park-Zoo gab - Gerüchten zufolge warensogar die Elefanten attackiert worden - fing Wegner in nur einerWoche 475 Stück. 1997 gründete Bürgermeister Rudy Giuliani in gewohntmilitanter Manier eine «Extermination Task Force» und verkündete:«Vermutlich sind wir Landesmeister im Rattentöten.» Kurz daraufwurden erstmals auch Ratten in der Residenz des Bürgermeistersgesichtet.
Giulianis nüchtern-geschäftsmäßiger Nachfolger Bloomberg hat eine«New-York-City-Akademie zur Nager-Kontrolle» eingerichtet. Für dieregelmäßig stattfindenden Seminare verpflichtete er Bobby Corrigan,den «Superstar der Kammerjäger-Branche», wie ihn die Fachpressenennt. Der bullige Mann hat das Standardwerk zur Rattenbekämpfunggeschrieben. Wörtlich übersetzt heißt es: «Nager-Kontrolle. Einpraktischer Führer für die Profis im Ungeziefer-Management.»
Wenn Corrigan über Ratten doziert, ist es im Saal mäuschenstill.Er ist ein guter Redner. Meist beginnt er damit, wie er als jungerKammerjäger zum ersten Mal mit einer Ratte in einer Kloschüsselkonfrontiert wurde. Er erschlug sie mit einer Spraydose: «Das warweder schön noch professionell.» Heute ist er der unbestrittene«Ratten-Zar». Bei besonders «herausfordernden Nager-Situationen» -Fachsprache für Rattenplagen - muss er Hilfestellung geben. Hat erdie Sache dann wieder mal in den Griff bekommen, sagt er bescheiden:«Wir müssen uns alle darüber im Klaren sein: Wenn es um Nager geht,hat man es mit einem lebenslangen Lernprozess zu tun.»
Corrigan soll vor allem auch die Moral der städtischenRattenfänger heben. Ihr Berufsstand ist nicht gerade angesehen. Keinkleiner Junge träumt davon, einmal Rattenfänger zu werden, und aufeiner Party kann ein Gespräch sehr schnell ersterben, wenn man aufdie Frage «Und was machen Sie beruflich?» - «Rattenfänger» antwortet.
Dabei, so betont Corrigan, ist die Arbeit seiner Kollegenunverzichtbar. «Ohne uns wäre die Stadt arm dran - sehr arm dran.» Essind die «Pest Controllers» und «Exterminators», die dafür sorgen,dass in New York höchstens die dressierten Ratten im Broadway-Musical«The Woman in White» ihre natürliche Lebenserwartung von drei Jahrenerreichen. Die durchschnittliche New Yorker Ratte wird nicht älterals ein Jahr.
Doch eine Bekämpfung mit Fallen und Giften kann eine Rattenplagenicht eindämmen. So viele Tiere auch sterben mögen, die Überlebendenverdoppeln dann einfach ihre Geburtsrate. Der einzige Schlüssel zurLösung des Problems ist die Verminderung des Nahrungsangebots. In derUmgebung des Carroll Parks heißt dies zum Beispiel, dass dieRestaurantbesitzer dazu gebracht werden müssen, ihren Müll inContainern und nicht in Säcken auf die Straße zu stellen. DieMülltonnen im Park selber sind schon angepasst worden, so dass sichdie Ratten nicht mehr von unten in die eingehängten Tütendurchfressen können. Aber noch immer gibt es viel zu wenigeAbfallbehälter, und noch immer will sich ein altes Ehepaar nichtdavon abbringen zu lassen, säckeweise Erdnüsse auszustreuen - «fürdie Vögel», wie es glaubt.
Es werden jetzt weniger Ratten im Park gesehen als noch voreinigen Monaten, aber noch immer weiß Katia Kelly nicht, ob sie imFrühjahr wieder in den Blumenbeeten arbeiten wird: «Hier die Hände inden Boden zu stecken und zu riskieren, dass dann 'ne Rattehochspringt - nein, danke.»