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Türkei Türkei: «Freudenschüsse» töten jedes Jahr 700 Menschen

Von Ingo Bierschwale 05.09.2005, 13:30

Istanbul/dpa. - Ein paarTage zuvor das gleiche Bild bei einer Dorfhochzeit im Südwesten derTürkei: Als sich die Stimmung ihrem Höhepunkt nähert, zücken einigeGäste ihre Pistolen und feuern «Freudenschüsse» in die Luft. EineKugel verirrt sich und trifft den achtjährigen Schüler IbrahimDalkilinc in den Kopf. Der kleine Junge hatte der Feier zufortgeschrittener Stunde vom Schoß seiner Mutter aus zugesehen.

Begüm und Ibrahim sind laut Statistik nur zwei von 700 Männern,Frauen und Kindern, die jedes Jahr in der Türkei bei ausgelassenenFreudenfeiern «versehentlich» erschossen werden. Die Zahl derVerletzten dürfte ein Mehrfaches betragen. Locker sitzen dieSchusswaffen nicht nur bei traditionellen Hochzeitsfeiern. Ebensogefährlich kann es werden, wenn Fußballfans jubelnd durch die Straßenziehen und den Sieg ihrer Mannschaft feiern oder junge Männer einenihrer Kameraden zum Militär verabschieden. «Jetzt reicht es» und«Endlich muss uns jemand Einhalt gebieten», erzürnten sich türkischeZeitungen angesichts der Häufung der tragischen Todesfälle in denletzten Augusttagen.

Nach den Zeitungsberichten hat die Zahl der Waffen in Privatbesitzin den vergangenen Jahren erschreckend zugenommen. Nach offiziellenAngaben haben knapp zwei Millionen der mehr als 70 Millionen Türkeneine Genehmigung, eine Waffe zu besitzen oder zu tragen. LautSchätzungen kommen jedoch sieben Millionen «illegale» Waffen hinzu.Fazit des Massenblatts «Sabah»: «Die Türkei ist zur Waffenhöllegeworden.»

Mit einem Gehörschaden kam der Abgeordnete Faruk Koca von dertürkischen Regierungspartei AKP bei einer Hochzeit in der Nähe derHauptstadt Ankara davon. Er habe sich ausdrücklich zusichern lassen,dass keine Waffen abgefeuert würden, erzählt Koca vom Krankenbettaus. «Doch kaum war ich angekommen, knallten auch schon die Schüsse.»Einer davon ganz in seiner Nähe. «Solche Vorfälle darf es einfachnicht geben, sie schaden dem Ansehen der Türkei auf dem Weg in dieEU», meint der Abgeordnete.

Obwohl das türkische Parlament gerade erst die Strafen für dasAbfeuern von Waffen in Wohngebieten verschärft hat, gibt es andereAbgeordnete, die nicht gerade mit gutem Vorbild vorangehen. FürSchlagzeilen sorgten der AKP-Vizefraktionschef Eyüp Fatsa und einParlamentskollege, als sie im Juli bei einer Hochzeit am SchwarzenMeer ganze Pistolenmagazine leer feuerten und sich «wie die Cowboys»aufführten. «Das hat sich ganz spontan ergeben. Ich denke, dieAbgeordneten haben sich von der Begeisterung mitreißen lassen»,verteidigte Energieminister Hilmi Güler seine Parteifreunde.

Derartige Entschuldigungen kommen in der türkischen Öffentlichkeitallerdings immer weniger an. Kritiker werfen Regierung und Parlamentstille Duldung oder aber Untätigkeit vor. Das Auftreten derAbgeordneten wäre eine «goldene Gelegenheit» gewesen, die Immunitätder beiden Parlamentarier aufzuheben, sie vor Gericht zu stellen unddamit ein Exempel zu statuieren, schrieb ein Kommentator der Zeitung«Vatan» (Vaterland). Geschehen sei allerdings nichts.