Stiftung Naturlandschaften Brandenburg Stiftung Naturlandschaften Brandenburg,Urwälder,Jüterbog

Jüterbog - Andreas Meißner tritt vorsichtig nach vorn, damit ihm das Schilf nicht den Blick versperrt. Der See liegt vor ihm, Schilf am Rand, blauer Himmel mit hineingetupften Wolken darüber. Ein prächtiges Bild, nur die vielen Stämme und kahlen Äste, die hinten aus dem Wasser ragen, stören. Gesund sieht das nicht aus. Er schaut durchs Fernglas. „Abgestorbene Bäume“, sagt er dann. „Das ist natürlich etwas Schönes für uns.“
Vielleicht muss man es so sagen: Wenn Andreas Meißner durch sein Fernglas blickt, sieht er nicht totes Gehölz. Er sieht Bewegung, Veränderung, Natur in Aktion. Stehen Wurzeln unter Wasser, stirbt der Baum, irgendwann bricht der Stamm, fällt ins Wasser, zersetzt sich, wird zu Torf. Ein Moor entsteht. Nicht nächstes Jahr, nicht in zehn Jahren und nicht in 100. Eine Torfschicht wächst pro Jahr um einen Millimeter.
Er wird das Moor nicht mehr erleben, aber darauf kommt es nicht an. Hier, in Jüterbog, ist es nicht so wichtig, was passiert, und wann. Wichtig ist nur, wie: Die Natur macht es. Nicht der Mensch. Weil es zum Wesen des Menschen gehört, seine Umwelt zu verändern, hat er einen Begriff gefunden für solche Orte, die unberührt sind von seinem Gestaltungswillen: Wildnis.
Auf 13.000 Hektar soll gar nichts passieren
In Jüterbog, 70 Kilometer südwestlich von Berlin, hat der Mensch seinen Auftritt nur als Gast, Beobachter oder, im Fall von Andreas Meißner, als Hüter des 7.200 Hektar großen Gebiets. Er ist Geschäftsführer der Stiftung Naturlandschaften Brandenburg, die diesen und drei andere Landstriche im Land gekauft hat, um sie zu „Urwäldern von morgen“ werden zu lassen, für jeden begehbar.
Es gibt eine Geschäftsstelle in Potsdam, Stiftungsrat, Vorstand und Beirat. Viel Organisation dafür, dass auf insgesamt knapp 13.000 Hektar gar nichts passieren soll. Aber anders ist ungestörte Natur nicht mehr zu haben im Anthropozän, wie die Erdepoche, in der wir leben, vielleicht bald offiziell heißen wird - demnächst wird die Internationale Kommission für Stratigraphie beschließen, ob das nächste Erdzeitalter nach dem Menschen benannt wird, weil er den Planeten unwiderruflich verändert hat und verändert.
Unberührte Orte, die eine Ahnung davon geben, wie der Planet ohne ihn aussähe, wird es nur geben, wenn der Mensch beschließt, sich rauszuhalten. Wobei umstritten ist, wie „unberührt“ selbst diese Gebiete noch sind. Der amerikanische Geologe Earl Ellis spricht vom „gebrauchten Planeten“, 75 Prozent der Erde seien über die Jahrtausende vom Menschen beackert, bearbeitet, beeinflusst worden. Wir müssen mit der Postnatur, die da entsteht, wo der Mensch sie lässt, sorgsam umgehen.
Verbrannte Erde und Karnickelsand
Für eine solche Postnatur wären die künftigen Brandenburger Urwälder ein gutes Beispiel. Wo sie entstehen, rumpelten jahrzehntelang Panzer über den Boden, rissen ihn auf, drückten ihn platt, malträtierten ihn, bis nichts mehr wuchs. „Das waren devastierte Landschaften“, so Meißner, ein 52-jähriger Berliner, hinter dessen sachlicher Ökologen-Sprache sich eine ansteckende Naturbegeisterung versteckt.
130 Jahre lang wurde in Jüterbog für den Krieg geübt, erst von der königlich-preußischen Armee, dann von der Wehrmacht, dann von russischen Soldaten.
1994 zogen sie ab, hinterließen Panzer, Bunker, Kasernen und ein mit Munition gespicktes Gelände. Als sich die Kreisstadt Jüterbog 1993 als Standort für den geplanten Hauptstadt-Flughafen empfahl, wurde der rabiate Umgang mit der Fläche als Standortvorteil präsentiert: Nichts als verbrannte Erde und Karnickelsand sei übrig, man könne nichts kaputtmachen, so der Bürgermeister. Die Entscheidung fiel für Schönefeld.
Wolfsrudel und Mopsfledermaus in 20 Jahren
Etwa zur gleichen Zeit hatten zwei Männer eine andere Vision. Hans Joachim Mader, ein Bonner Beamter, der Anfang der 90er nach Potsdam gegangen war, um die neue Verwaltung mit aufzubauen, und sein Mitarbeiter Hubertus Meckelmann sahen in den Flächen eine Chance.
Sie warben für ihre Idee, fanden Mitstreiter, und 2000 war es so weit: Die Stiftung Naturlandschaften, zu der das Land Brandenburg, der WWF und der NABU sowie die Zoologische Gesellschaft Frankfurt gehören, kaufte den ersten Streifen Land.
Andreas Hauffe, der wie ein Ranger täglich für die Stiftung das Gelände abfährt, lenkt den Pick-up über unbefestigte Wege, auf denen Schnee liegt. Vor ihm haben nur Tiere darin Spuren hinterlassen: Rotwild, ein Fuchs und ein Wolf. „Die Wölfe gehen gern auf den Wegen“, sagt Hauffe, Liegenschaftsbeauftragter für die Stiftung.
„Wir lassen laufen. Wir wissen nicht, was rauskommt.“
In nur 20 Jahren hat die Natur sich des Geländes auf eindrucksvolle Art wiederbemächtigt, das Wolfsrudel ist dafür ein spektakulärer Beweis. Hauffes Chef, Andreas Meißner, freut sich aber auch über die Besenheide, die Birken, die seltene Mopsfledermaus und, als passionierter Vogelbeobachter, über Ziegenmelker und Raufußkauz.
Auf einer Anhöhe hält der Jeep, Meißner steigt aus und blickt über die menschenleere Landschaft. „Wir sind nun etwa bei der dritten Sukzessionsstufe“, sagt er und klingt wie ein stolzer Vater, der erzählt, dass das Kind schon durchschläft. Birken und Kiefern lösen gerade die Heide ab, die hier zuerst wuchs, und die wiederum folgte auf genügsame Gewächse wie Silbergras und Haarmützenmoos, deren Samen als erste im nährstoffarmen Sandboden aufgingen.
Die Stiftung Naturlandschaften Brandenburg will weitere Flächen kaufen und sie vor allem miteinander verbinden, damit die Tierarten weiterwandern können. Aber Grund und Boden ist teuer. Vor 20 Jahren habe ein Hektar Kiefernwald rund 500 Euro gekostet, jetzt 7.500, so Geschäftsführer Andreas Meißner. Zwei Prozent der Landfläche in Deutschland sollen Wildnis werden, das hat die Bundesregierung 2007 beschlossen. 2020 soll es so weit sein. Ein ehrgeiziges Ziel. Der aktuelle Wildnis-Stand: 0,6 Prozent.
Sukzession, das ist das Nacheinander von Pflanzen und Tieren in einem Ökosystem - wenn es zugelassen wird. Der Gedanke, dass man nicht eine Art oder ein Biotop bewahrt, sondern die Veränderung an sich, ist noch ziemlich neu im deutschen Naturschutz und gewöhnungsbedürftig.
Weil Natur, die man alleinlässt, viel mit Tod und Verwesung zu tun hat, mit kleinen Organismen, die etwa auf sich zersetzenden Baumleichen Nahrung finden - und nicht unbedingt mit atemberaubenden Ausblicken und dekorativen Tierarten.
In Jüterbog sind viele der jungen Kiefern gelblich eingefärbt, richtig gut scheint es ihnen nicht zu gehen. Wahrscheinlich wegen des nährstoffarmen Bodens, so Meißner. Er wirkt nicht, als ob ihn das beunruhigt. „Wir lassen laufen. Wir wissen nicht, was rauskommt.“ So ganz stimmt es nicht, weil der Mensch für alles Modelle und Prognosen hat. In ein paar hundert Jahren wird hier wahrscheinlich ein Eichen- oder Buchenwald gewachsen sein.
Niemand wird eingreifen. Prozessschutz ist der korrekte Begriff dafür, aber weil bei dem Wort die Neugier auf das Thema schnell erloschen sein könnte, redet man auch bei der Stiftung Naturlandschaften von Wildnis.
Je gefährdeter die Natur ist, desto mehr ist sie zum Sehnsuchtsort geworden. Man merkt das am Erfolg eines Buches wie „Die geheime Sprache der Bäume“, in dem ein Förster Wälder als eine Ansammlung fürsorglicher Baumfamilien beschreibt. In einem kleinen Verlag erschienen, hat es sich überraschend in die Bestsellerlisten vorgearbeitet. Man merkt es auch daran, wie schnell in Jüterbog Führungen ausgebucht sind, besonders die zum Thema Wolf.
Flauschige Wesen im Bunker
In Jüterbog gibt es zwar einen Eingang mit Schranke, hinter der die Bundesstraße, die Felder, die kleinen Orte zurückbleiben wie eine andere Welt. Aber drinnen wird man immer wieder daran erinnert, dass der Mensch schon mal da war. Durch die schmale Öffnung in einer gemauerten Wand etwa: Tritt man durch sie hindurch, führen Stufen nach unten und es wird sehr dunkel. Einer von vielen übriggebliebenen Bunkern.
Meißner läuft immer weiter hinein in den unterirdischen Gang. Dann bleibt er stehen, die Taschenlampe an die niedrige Decke gerichtet: Drei handtellergroße flauschige Wesen hängen da kopfüber. Bechsteinfledermäuse im Winterschlaf. Die Art steht unter Naturschutz, in forstwirtschaftlich genutzten Wäldern findet sie immer seltener Höhlen zum Nisten und Überwintern.
So ein verlassener Bunker bietet ihr alles, was sie braucht. Natur ist nicht wählerisch, sie unterscheidet nicht zwischen natürlich und menschengemacht. Das macht sie nicht weniger echt. Auch das kann man in Jüterbog begreifen. (mz)