Sexualität Sexualität: Neue Geilheit und neue Tabus
Hamburg/dpa. - «Alle Menschen werden prüder» lautet eine spaßiggemeinte Abwandlung eines berühmten Verses von Friedrich Schiller -doch genau das Gegenteil scheint der Fall zu sein. Das zeigtzumindest die Entwicklung des sprachlichen Umgangs mit Sexuellem.Wörter und Redewendungen, die früher meist nur an den Wändenöffentlicher Toiletten und in Pornoschriften zu lesen waren, werdeninzwischen überall, auch in seriösen Zeitungen, gedruckt; gesprochenwird so schon lange, ob im Fernsehen oder Film. Gewandelt hat sichdamit allerdings auch noch etwa anderes: Die erotische Sprache hat anVielfalt verloren, ist fantasieloser und banaler geworden.
Umfassend widmet sich diesem Sprachbereich das neue Buch desHamburger Philologieprofessors Christoph Gutknecht. Ein Hauptthemavon «Ich mach's Dir mexikanisch. Lauter erotische Wortgeschichten»sind der Ursprung und der Wandel von Wörtern in der Gemeinsprache,der Fachsprache, der Sondersprache, der Regionalsprache und denDialekten. Das Buch, das gute Aussichten hat, so etwas wie einStandardwerk zu werden, vermittelt mit literarischen und anderenBeispielen auch einen Eindruck von der Variationsbreite derBeschreibung von Sexuellem. (Verlag C.H. Beck, 245 S., 9,90 Euro,ISBN 3-406510099-X)
Eine erhebliche Einschränkung hat sie in den vergangenenJahrzehnten allein schon durch das englische Wort für Geschlecht -Sex - erfahren. Es findet sich inzwischen auch in ungezähltenZusammensetzungen - von Sexbombe, Sexmuffel, Sexwelle, Sexshop undSexfilm bis Sextourismus, Gruppensex und Telefonsex. EineZeitungsschlagzeile nannte kürzlich eine deutsche Olympiateilnehmerindie Sex-Göttin des Athener Publikums.
Besonderer Konjunktur erfreut sich das Wort sexy. Frauen sind sexyoder nicht, Männer neuerdings ebenfalls. Eine Umfrage stellteunlängst fest, welche weiblichen und männlichen Vornamen als sexygelten. Selbst Autos können sexy sein. Der inhaltsarme Begriff hatoffenbar fast unbegrenzte Ausbreitungsmöglichkeiten.
Neben der Enttabuisierung der sexuellen Sphäre und derentsprechenden größeren sprachlichen Freizügigkeit haben sich aberauch neue Zurückhaltungen entwickelt. So sind früher üblichespöttische und abschätzige Kennzeichnungen homosexueller Praktikenzumindest aus der öffentlichen Sprache verschwunden. Hauptgrundoffenbar: die veränderte Beurteilung der Homosexualität.
Die Prostitution ist zwar weiterhin auch ein Bereich besondersüppiger sprachlicher Mannigfaltigkeit. Doch wird neuerdings, wohlwegen ihrer gewandelten sozialen Einschätzung, hier ebenfalls einegrößere Zurückhaltung bei sprachlichen Kennzeichnungen deutlich. AuchWortbedeutungen haben sich verändert. Dass es inzwischen Huren-Organisationen gibt, könnte zeigen, dass das Wort nicht mehr alsabwertend und anstößig gedeutet wird. Bei anderen Worten wieGunstgewerblerin, Straßenmädchen, Liebesdienerin und Callgirl giltdies ohnehin seit langem nicht mehr.
Für den neuerlichen Bedeutungswandel einzelner Wörter ist «geil»ein besonders anschauliches Beispiel. Die ältere Bedeutung im Sinnevon üppig wuchernd, etwa bei Reben, trat zunächst fast völlig hinterder sexuellen Konnotation zurück. Der jetzt aktuelle, zuerst vonJugendlichen bevorzugte und dann allgemein akzeptierte Gebrauch imSinne von toll, lustig, großartig und aufregend greift die alteBedeutung unbewusst nun wieder auf.
Die Gewöhnung an stereotype und auch vulgäre Sprache hat diefrüher häufig andeutende und verhüllende verdrängt oder überflüssiggemacht. Bei alledem aber ist auch weiterhin geistvolle oder auchunvulgär-witzige Sprache beliebt. Da finden sich flotte Sprüche wie«Lieber nett im Bett als cool auf dem Stuhl». Oder auch Schüttelreimewie «Nicht selten liest die prüde Rosa im Bette heimlich rüde Prosa».Auch Kalauer sprechen sich schnell herum, wie der von dem Mädchen,das sagte: «Französisch kann ich perfekt, nur mit der Sprache hapertes noch.» Auch aus der «klassischen» Literatur wird gelegentlich gernzitiert. So aus Erich Kästners «Herz auf Taille» (1928): «Da hat mirkürzlich und mitten im Bett / eine Studentin der Jurisprudenzerklärt: / Jungfernschaft sei, möglicherweise, ganz nett, / besäßaber kaum noch Sammelwert...»
Eine Definition der Geschlechtsverkehr-Variante, die dem BuchGutknechts den Titel gab, steht in der einschlägigen Literatur nochaus. Erstmals erwähnt wurde sie 1969 von dem Autor Ernst Bloch. EinSchauspieler kam nachts auf dem Nachhauseweg in Wien durch eineHurengasse, in der ihm aus einem engen Haus ein Mädchen nachrief.«Schau, sei net blöd, komm her, ich mach dirs mexikanisch.» Doch erging weiter. Nach einigen Straßen fragte er sich, was es wohl gemeinthaben könnte. Er ging zurück, fand das Haus aber nicht mehr - undfragt sich seitdem vermutlich, was er verpasst haben könnte.