Sexualität Sexualität: Fünf Jahre Viagra in Deutschland
Karlsruhe/Hamburg/dpa. - «Revolution des Sexlebens» oder «Erotikkiller» - die Hoffnungen und Befürchtungen überschlugen sich, als die Potenzpille Viagra am 15. September 1998 auch in der Europäischen Union zugelassen wurde. Seit März war sie bereits in den USA zugelassen. Die «Erektile Dysfunktion», Fachausdruck für Erektionsstörungen, drang in das Bewusstsein der Europäer. Zwei Wochen später war Viagra in deutschen Apotheken zu kaufen. «In Deutschland wurden seit der Einführung am 1. Oktober 1998 rund 30 Millionen Tabletten abgegeben», sagt der Vorsitzende der Geschäftsführung von Pfizer Deutschland, Walter Köbele. Mehr als eine Million Männer mit erektiler Dysfunktion hätten das Mittel (Wirkstoff Sildenafil) in Deutschland mindestens schon einmal genommen. Das Durchschnittsalter der Viagra-Patienten liege bei 58 Jahren.
Der Erfolg des «blauen Diamanten», dessen Wirkung durch Zufall bei der Forschung nach Herzmitteln entdeckt wurde, war überragend für den US-Pharmakonzern Pfizer und trieb Umsatz und Gewinn in die Höhe. Das ließ der Konkurrenz keine Ruhe: Im Februar 2003 kam Cialis (Wirkstoff Tadalafil) von Lilly in Deutschland auf den Markt. Im März folgte Levitra (Wirkstoff Vardenafil) von Bayer. «Wir begrüßen den Wettbewerb», sagt Köbele. In fünf Jahren und mehr als 100 Studien habe Pfizer unter Beweis gestellt, dass die blaue rautenförmige Tablette sicher und zuverlässig wirke. Viagra hat in Deutschland nach Angaben von Pfizer mehr als 50 Prozent Marktanteil bei den Potenzmitteln, Cialis rund 25 Prozent, Levitra rund 14 Prozent (Stand Juni 2003). Ähnliche Größenordnungen nennt Lilly, während Bayer noch keine detaillierten Zahlen herausgibt.
Die beiden neuen Pillen hemmen wie Viagra das Enzym Phosphodiesterase-5. Dadurch erschlafft die glatte Muskulatur, wodurch vermehrt Blut in den Penis einfließen kann. Forscher weltweit arbeiten zudem an Alternativen, die etwa Nervenbotenstoffe beeinflussen. In Deutschland gibt es mit Uprima und Ixense (beide Wirkstoff Apomorphin) schon zwei dieser Medikamente in den Apotheken.
Der Bedarf an Potenzmitteln schien und scheint riesig: Zwischen vier und zwölf Millionen Männern in Deutschland wurden Impotenz und Erektionsstörungen zugeschrieben - ob aus psychischen Gründen oder durch Diabetes, Arterienverkalkungen, Rückenmarksverletzungen oder nach Prostataoperationen. Pfizer Deutschland-Chef Köbele rechnet mit 3,5 Millionen Männern mit Erektiler Dysfunktion, die noch nicht behandelt sind. Kritiker mahnen, nicht jeden Mann, der einmal durch Stress nicht kann, als behandlungsbedürftigen Kranken einzustufen.
Dass Viagra vor allem älteren Männern die Chance auf ein ausgefülltes Sexualleben ermöglicht, bestreitet fast niemand mehr. Nach Vakuumpumpen und Injektionen in das Glied war Viagra die erste Tablette, die Erektionsstörungen schmerzlos, unkompliziert und mit wenig Nebenwirkungen behandeln konnte. Aber: «Mein Eindruck ist, dass Viagra auf das Sexualleben der Deutschen weniger Einfluss hatte als anfangs oft verbreitet», sagt der Sexualwissenschaftler Prof. Volkmar Sigusch von der Universität Frankfurt. «Manchmal ist die Erektion nicht so stark, dass eine Einführung des Gliedes in die Scheide möglich ist», schildert er Erfahrungen von einigen Patienten. Aber auch Sigusch zieht positive Schlüsse: Wenn etwa eine Erektionsstörung durch oberflächliche, seelische Konflikte ausgelöst würde, helfe Viagra den Männern: «Dann nämlich durchbricht das Mittel die Ängste vor der Impotenz.»
Das Geschäft mit der Potenz ruft auch kriminelle Energien auf den Plan: Erst Ende August stellte der Hamburger Zoll 40 000 gefälschte Tabletten des Potenzmittels sicher. Ein Rentner im niederrheinischen Dinslaken bedrohte 1999 eine Apothekerin mit einer Pistole und forderte von ihr, Viagra auch ohne Rezept zu bekommen. Potenzpillen müssen weiterhin vom Arzt verschrieben werden, dies soll Missbrauch vorbeugen.
Pfizer, dessen Viagra-Patent nach Köbeles Angaben in Deutschland bis 2019 gilt, hat noch viel vor mit dem Wirkstoff Sildenafil. Neuen Studien zufolge kommt er auch Menschen zu Gute, die an seltenem, aber tödlichen Lungenhochdruck leiden.