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Studie Rechtsextremismus in der Mitte der Gesellschaft

Der Verfassungsschutz sieht mit einem Ausstiegsprogramm für Extremisten den Einstieg in ein normales Leben. Aber die Arbeit ist langwierig.

Von dpa Aktualisiert: 07.09.2023, 17:27
Jörg Müller, Leiter des Brandenburger Verfassungsschutzes, nimmt an der Fachtagung Hasskriminalität am Cottbusser Messegelände teil.
Jörg Müller, Leiter des Brandenburger Verfassungsschutzes, nimmt an der Fachtagung Hasskriminalität am Cottbusser Messegelände teil. Patrick Pleul/dpa

Cottbus - Der Rechtsextremismus ist nach Darstellung des Verfassungsschutzes in Brandenburg in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Er habe eine „entgrenzte“ Entwicklung im Land genommen, sagte der Leiter des Brandenburger Verfassungsschutzes, Jörg Müller, am Donnerstag in Cottbus bei einer Fachkonferenz zum Thema Hasskriminalität. Müller sieht ein neues Aussteigerprogramm als Signal für die rechtsextreme Szene.

Der Behördenleiter erläuterte Polizei, Justiz und Fachleuten auf der Konferenz das Aussteigerprogramm „wageMut“. Es startete zu Jahresbeginn, um Extremisten zu einem Ausstieg zu beraten und dabei zu begleiten. „Resozialisierung ist ein Signal an die Szene, dass der Staat einen attraktiven Weg bietet“, sagte Müller. Mit dem Programm gebe es ein professionelles Angebot für ein Leben ohne Hass und Gewalt. Es helfe bei der Loslösung aus dem demokratiefeindlichen Milieu und bei einer komplexen Neuordnung des Lebens der Ausstiegswilligen.

Auf Bundesebene und in anderen Bundesländern gibt es solche Aussteigerangebote bereits. Der Rechtsextremismus ist auch aus Sicht des Bundesinnenministeriums die größte Bedrohung für die Demokratie.

Der Verfassungsschutz denke bei dem Ausstiegsprogramm nicht in Erfolgszahlen, betonte der Verfassungsschutzchef. Es gehe um eine mühsame Sozialarbeit und einen langwierigen Prozess, um die Betroffenen in eine Distanzierung zu bringen.

Er räumte zugleich mit Spekulationen über Maßnahmen für die Ausstiegswilligen auf. Sie würden nicht „nach Mallorca ausgeflogen“, dafür gebe es aber Unterstützung bei Räumungsklagen oder Behördengängen, um einen Zugang zum Staat herzustellen, sagte der Verfassungsschützer. Dazu sei eine enge Zusammenarbeit mit Polizei und Justiz notwendig. Bereits innerhalb einer Haftzeit eines Klienten würden Gespräche geführt und Perspektiven jenseits des Extremismus aufgezeigt. „Jedes Gespräch ist es wert, geführt zu werden.“

Mindestens zehn Prozent der Menschen im rechtsextremen Milieu sind laut Müller für einen Ausstieg aus der Szene empfänglich. Der Verfassungsschutz geht von rund 2800 Rechtsextremisten in Brandenburg aus.

Nach Angaben der Polizei gab es im Zeitraum 2021 bis Juli 2023 rund 10.000 politisch motivierte Straftaten. Davon entfielen rund 2000 auf Hasskriminalität, allein in Südbrandenburg waren es 495. Dabei müsse man von einer hohen Dunkelziffer ausgehen, sagte der Leiter der Polizeidirektion Süd, Sven Bogacz. Hasspostings im Internet seien eine besondere Herausforderung für die Behörden.

Eine Mitarbeiterin des Sozialamtes Cottbus berichtete von 50 bis 60 Anzeigen im Jahr, die sie für Kollegen schreibe. Es gehe unter anderem um Beleidigung, Beschädigung von Privatautos und eingeschlagene Fensterscheiben.

Praktisch an jedem Tag hat es zwischen den Jahren 2014 und 2021 in Brandenburg Angriffe auf Bürgermeister, Landräte oder andere kommunale Amts- und Mandatsträger gegeben. Das zeigt eine Studie des Change Centre Instituts im Auftrag von Innenministerium und Landesverfassungsschutz, die Studienleiter Joachim Klewes in Cottbus vorstellte. Sie wurde erstmals im April 2022 präsentiert.

Demnach wurden im Untersuchungszeitraum etwa 2500 Menschen im Land mit Verantwortung in der Kommunalpolitik angegriffen. Am häufigsten ging es laut Analyse um Beleidigungen im öffentlichen Raum (33 Prozent) und im Internet (24 Prozent). Es folgen Bedrohungen (19 Prozent), Sachbeschädigung (14 Prozent) und körperliche Gewalt (4 Prozent). Über 7000 Amts- und Mandatsträger wurden für die Studie „Hasskriminalität im kriminalpolitischen Raum“ befragt.

Es geht nach der Auswertung zumeist um verbale und schriftliche Anfeindungen, gefolgt von Hasspostings. Kommunalpolitikerinnen werden nach der Analyse etwas häufiger Opfer solcher Angriffe als Männer. Laut Studie wurden Bürgermeister, Landräte und andere kommunale Amtsträger häufiger zur Zielscheibe, die sich deutlich für oder gegen Themen wie Extremismus, Asyl, Windkraft oder die Pandemie-Strategie positionierten.

Mehr als ein Drittel der Befragten berichtete laut Studie, dass Bedrohungen, Beleidigungen, Sachbeschädigung oder Gewalt von Mitgliedern anderer Fraktionen oder Parteien ihrer Kommune oder ihres Kreises ausgingen. Nur gut jedes vierte Opfer (27 Prozent) hat demnach überhaupt mindestens einen der Vorfälle angezeigt.

Bei der Untersuchung zeigte sich laut Studien-Leiter Klewes auch, dass sich die Zahl der Angriffe in den Regionen unterschiedlich darstellt. Am meisten von Hasskriminalität betroffen seien Kommunalpolitiker in Städten über 20.000 Einwohner (49 Prozent), gefolgt von Städten mit einer Einwohnerzahl über 5000.

„Wir kommen aus dem Dunkelfeld raus mit der Studie, geben den Mandatsträgern Wertschätzung und schauen nicht nur auf den Befund, sondern suchen nach Maßnahmen gegen Hasskriminalität“, sagte Verfassungsschutzchef Müller.

Eine bei der Generalstaatsanwaltschaft des Landes angesiedelte Zentralstelle strebt sie die Einrichtung eines Meldeportals für politische Mandatsträger an, die Opfer von Hass und Hetze geworden sind. Straftaten sollen so noch einfacher angezeigt werden können.