Prozess Prozess: Urteil gegen Chemnitzer Reifenstecher erlassen

Chemnitz/dpa. - Viele Monate lang genoss der Reifenstechervon Chemnitz die Schlagzeilen in der Presse über ihn, das Phantom,das mit der Polizei Katz und Maus spielte und nicht zu fassen war. ZuProzessbeginn am Mittwoch aber wollte er den Medien sein Gesichtnicht zeigen. Vor dem minutenlangen Blitzlichtgewitter derKameraleute und Fotografen schützte er sich hinter einem Aktendeckel.
Wer den 32 Jahre alten arbeitslosen Tischler zum ersten Mal sah,wollte kaum glauben, dass er von Sommer 2002 bis Herbst 2003 derSchrecken der Autofahrer von Chemnitz und Umgebung war. Viele derrund 50 Zuhörer im Saal, darunter etliche Betroffene, werden sichgefragt haben: Dieser ganz in Schwarz gekleidete, fast kindlich undschüchtern wirkende hagere Mann mit dem spitzmäusigen Gesicht sollder gefürchtete «Reifen-Ripper» sein?
Staatsanwältin Dagmar Riedel legt bei Verlesung der Anklageschrifteinen sprachlichen Parforceritt hin. In 50 Minuten listet sie beiVerlesung der Anklageschrift akribisch alle 669 betroffenen Autosauf, unterteilt nach Ort, Straße, Tatzeit, Autotyp, polizeilichesKennzeichen, Anzahl der zerstochenen Reifen in jedem Einzelfall undHöhe des Schadens.
Der Angeklagte hört teilnahmslos zu, schließt hin und wieder dieAugen oder reibt sich intensiv die Nasenwurzel. Mit leiser Stimmegibt er er dann Auskunft zu seiner Person: als Einzelkindaufgewachsen, sehr gute Leistungen in der 10-Klassen-Schule,Abschluss einer Ausbildung zum Facharbeiter für automatisierteAnlagen, arbeitslos, Bundeswehr, Umschulung zum Tischler, wiederarbeitslos bis zur Festnahme Mitte Dezember 2003. Sein erlernterBeruf und auch später die Tischlerei, das habe ihm, der Billard,Schach und Wandern liebt, «gar nicht gefallen», gibt er zu Protokoll.Spaß machen würde ihm ein kreativer Beruf. Dann fällt ein traurigerSatz: «Ich habe keine Freude am Leben.»
Über seine Motive für die bundesweit einmalige Serie von sinnloserZerstörungswut schweigt er sich aus. Die Absicht, schwere Unfälleherbeizuführen, habe er nicht gehabt. Seine Opfer werden das anderssehen, die Krankenschwester, die früh morgens zur Arbeit wollte oderder Nachschichtarbeiter, der gern schnell nach Hause gekommen wäre.Sie standen entsetzt vor ihren Autos mit dem «Platten» und hattenunerwartete Ausgaben und Laufereien.
Die Autofahrer in der Chemnitzer Region atmeten nach seinerVerhaftung auf. Der lange Unbekannte verübte sein zerstörerischesWerk willkürlich ohne erkennbares System. Er kam meist nachts, zückteeinen spitzen Gegenstand und stach zu. Es konnte Jeden treffen.
Ab und zu legte er eine Pause ein, um dann unerwartet sein Unwesenwieder fortsetzen. Monate lang hielt der Reifenstecher auch eineSonderkommission und die Streifenbeamten auf Trab, spielte mit denKriminalisten zeitweise Katz und Maus, verhöhnte sie gar. So fandensie im Oktober 2002 an einem Tatort eine Skatkarte mit demhandgeschriebenen Satz: «Lieber Polizist: Ich bin Gott».
Was wie ein Spiel aussah, nahm die Polizei sehr ernst. DerTatverdächtige hatte nach dem Vorbild des Heckenschützen vonWashington gehandelt, der mehrere Menschen aus dem Hinterhalterschoss. Auch der «Sniper» hatte eine Spielkarte mit diesem Satz deramerikanischen Polizei hingelegt.
Das Geständnis des Reifenstechers gleich am ersten Verhandlungstagkam unerwartet. Die Prozessbeteiligten hatten damit nicht gerechnetund waren auf langwierige Befragungen von Zeugen und Sachverständigeneingestellt. Doch nach den Bekenntnissen des Tischlers ließ dasUrteil nicht lange auf sich warten: dreieinhalb Jahre Haft.