1. MZ.de
  2. >
  3. Panorama
  4. >
  5. Prozess gegen Autobahnschützen: Prozess gegen Autobahnschützen: Links fahren rechts schießen

Prozess gegen Autobahnschützen Prozess gegen Autobahnschützen: Links fahren rechts schießen

Von Harald Biskup 27.10.2014, 18:49
Der wegen versuchten Mordes angeklagte Fernfahrer Michael Harry K. im Landgericht Würzburg
Der wegen versuchten Mordes angeklagte Fernfahrer Michael Harry K. im Landgericht Würzburg dpa Lizenz

Köln - Es ist schon fast ein Ritual. Auch am letzten regulären Verhandlungstag geht der Angeklagte, nachdem er von zwei Justizwachtmeistern in den Schwurgerichtssaal begleitet worden ist, auf den Staatsanwalt zu und begrüßt ihn mit Handschlag. Dabei lächelt er den Ankläger an. In seinem Schlusswort, das der Vorsitzende ihm fast abringen muss, stellt der Fernfahrer, der als „Autobahnschütze“ in die Kriminalgeschichte eingehen wird, lapidar fest: „der Herr Oberstaatsanwalt macht ja auch bloß seinen Job“.

Seit Mitte August muss sich Michael Harry K. vor dem Landgericht Würzburg verantworten. Er hat in langen Befragungen zugegeben, dass er von 2009 an Schüsse auf Ladungsgut und Aufbauten von Lkw abgegeben hat. Vier Personen wurden dabei verletzt. Niemals habe er auf andere Verkehrsteilnehmer gezielt, betont aber der Angeklagte.

Er wisse nicht, „welcher Esel“ ihn bei seinen Aktionen „geritten“ habe, hatte K. am ersten Prozesstag erklärt, nur dass er Frust gegenüber rücksichtslosen Kollegen empfunden und sich für deren Verhalten habe rächen wollen. Gewagte Überholmanöver, die zunehmende Hektik, der allabendliche Kampf um einen freien Autobahn-Park- und Schlafplatz - all das empfand der Mann, der sein Leben lang hinterm Steuer gesessen hat, als „Krieg“. Als einen Krieg, in dem er sich gegen vermeintliche anonyme Feinde glaubte zur Wehr setzen zu müssen. Durch mehr als 700 Schüsse, die er beim Fahren durch das geöffnete linke Fenster meist auf Lastwagen auf der Gegenfahrbahn abgegeben hat. „Mit links lenken und mit rechts schießen“, so hat er seine Methode vor Gericht mit erstaunlicher Offenherzigkeit beschrieben.

Oberstaatsanwalt Boris Raufeisen hält bis in sein Schlussplädoyer an dem Anklagevorwurf fest: K. habe sich „sehenden Auges über die Gefahrenlage hinweggesetzt“ und zwar nicht mit direktem, aber doch mit bedingtem Vorsatz gehandelt. Für seine „ungemessene Kompensation des Frustabbaus“ habe er „erhebliche kriminelle Energie“ aufgewandt. Sogar das Mordmerkmal Heimtücke sieht Raufeisen in einem Fall als gegeben an. Wegen vierfachen versuchten Mordes, Sachbeschädigung, fahrlässiger Körperverletzung, Eingriffs in den Straßenverkehr und Verstößen gegen das Waffengesetz summiere sich die Strafe auf 141 Jahre und sechs Monate. Bei Würdigung aller entlastenden Momente komme er, erläutert der Staatsanwalt, auf eine Gesamtstrafe von zwölf Jahren.

Anwalt Franz-Josef Krichel flüstert dem Angeklagten etwas zu, und Michael Harry K. nickt wie schicksalsergeben. Seine Verteidiger halten sechs Jahre für angemessen. Eine Tötungsabsicht haben sie vom ersten Tag an zurückgewiesen. „Man kann Herrn K. vieles unterstellen, aber nicht, dass er den Vorsatz hatte, Leben zu vernichten“, sagt Wahlverteidiger Guido Reitz.

Auf der nächsten Seite: „Die Taten passen einfach nicht zu seiner Persönlichkeit.“ Wer ist K.?

Wer ist dieser K., der jahrelang Furcht und Schrecken auf deutschen Autobahnen verbreitet hat? „Was ihm zur Last gelegt wird, ist mit seinem Verhalten vor Gericht einfach nicht in Einklang zu bringen“, sagt Verteidiger Krichel. „Die Taten passen einfach nicht zu seiner Persönlichkeit.“ Er findet das psychiatrische Gutachten des erfahrenen Prozess-Sachverständigen Professor Henning Saß nicht weiterführend. Der hatte bei dem Fernfahrer „egoistische und narzisstische Züge“ ausgemacht und ihm eine „Neigung zur Selbstüberschätzung“ attestiert. Früh habe sich bei K., der aus Halle an der Saale stammt, ein „deutliches Ressentiment gegen Staat und Gesellschaft entwickelt“. Er habe sich über Regeln hinweggesetzt und sein eigenes Rechtfertigungssystem erfunden. Weil er mit Freunden bandenmäßig Autos, „am liebsten West-Schlitten irgendwelcher Partei-Bonzen“, gestohlen hatte, wurde er als „Rädelsführer“ zu vierzehneinhalb Jahren Haft verurteilt. Eine drakonische Strafe, von der er bis zu einer Amnestie 1987 zehn Jahre absaß.

Im Sommer 1989 nutzten K. und seine Frau einen Ungarn-Urlaub zur Flucht in den Westen. Im 140-Seelen-Eifeldörfchen Frohnrath, einem Ortsteil von Kall, hatten seine Eltern, auch aus Halle stammend, nach der Wende ein Haus gekauft. Jetzt kurz vor der für Donnerstag geplanten Urteilsverkündung ist Michael Harry K. dort wieder ein Thema. In Variationen sagen alle, die ihn gekannt haben, das Gleiche: Hilfsbereit sei er gewesen, der Micha, ein Eigenbrötler, der bei keinem der vielen Vereine „angedockt“ habe. Höchstens beim Sommerfest hätten er und seine Frau Christel, früher Kassiererin in einem Kaller Baumarkt, vorbeigeschaut. Ortsvorsteher Karl Vermöhlen meint, K. sei „ein Teflon-Typ“, an dem alles abpralle. Dem widerspricht Rechtsanwalt Krichel. „Die Vorwürfe prallen ganz und gar nicht an ihm ab. Er weiß, dass er Schuld auf sich geladen hat und dafür geradestehen muss.“

Auf der nächsten Seite: Chef und Nachbarn schätzten den Mann. „Der Micha soll mir sagen, warum er das wirklich gemacht hat."

„Für uns war der Michael einfach nur ein großes Kind“, sagt Nachbar Hermann-Josef Limburg, der auch Vorsitzender der Dorfgemeinschaft ist. „Der hat auf der Straße Fernsteuer-Autos fahren lassen und Böller gern schon lange vor Silvester krachen lassen.“ Im Grunde sei er ein anständiger Kerl, „der zwei Gesichter hat, aber wir kannten halt nur das eine“. Dass die K.s ebenso wie die Eltern von drüben kamen, wusste jeder in dem winzigen Ort in der Nordeifel. Außerdem hörte man es am Tonfall. Bekannt war auch, dass Vater K. als Major in der NVA gedient hat. „Der hieß hier nur ,et Majörche’, weil er seinen Hund immer so herumkommandierte.“

Von K.s verbotenem heimlichen Treiben hat nie jemand etwas mitbekommen. Umso größer war der Schock, als Medien in ganz Deutschland berichteten, der Spuk mit den Autobahnschüssen sei vorbei und die Spur führe nach Frohnrath. Niemand hatte ahnen können, dass es in K. brodelte und zu welchen Mitteln er griff, um seine angestaute Wut abzureagieren, wenn er sonntagabends mit seinem blank gewienerten weißen 40-Tonner wieder auf Tour ging.

Auch nicht sein ehemaliger Chef Bernd Kreutz, einer der beiden Geschäftsführer der Spedition Hermanns und Kreutz in Kalterherberg nahe der belgischen Grenze. Als Zeuge im Prozess ist Kreutz kein böses Wort über seinen Mitarbeiter über die Lippen gekommen. K. sei „grundsolide und einer meiner Besten“. Er durfte den Lkw vom Typ Actros steuern - mit mehr als 500 PS so etwas wie der Rolls-Royce unter den Lastzügen. „Samstags ist er verhaftet worden, montags sollte er den nächsten Wagen übernehmen. Der Micha bekam immer die neuesten Fahrzeuge.“ Eine interne Auszeichnung, die K. zu schätzen wusste.

Erstaunlicherweise hegt Spediteur Kreutz bis heute kaum Groll gegen seinen früheren Fahrer. Er werde ihn in der Haft besuchen. „Der Micha soll mir sagen, warum er das wirklich gemacht hat. Krieg auf der Autobahn, das ist doch ein Schmarrn.“ (mz)