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Österreich Österreich: Natascha Kampusch überrascht mit ihren Interviews

07.09.2006, 14:03
Natascha Kampusch hat mit ihren ersten Interviewsviele Menschen überrascht. (Foto: dpa)
Natascha Kampusch hat mit ihren ersten Interviewsviele Menschen überrascht. (Foto: dpa) APA

Wien/dpa. - Nach denMedieninterviews zog sich die 18-Jährige wieder in ihre Privatsphärezurück. «Sie braucht eine Ruhephase von mindestens einer Woche biszehn Tagen», sagte am Donnerstag der Koordinator ihresBeratungsteams, der Psychiater Max Friedrich. In der Öffentlichkeitging unterdessen die Debatte um ihren TV-Auftritt und ihre Zukunftweiter.

Kampusch hatte in ihren Interviews mit Klarheit und Zukunftsmutüberrascht. Die junge Frau zeigte ihr Gesicht ohne Scheu, als sie vonihrer Entführung im März 1998, von ihrer Zeit der Gefangenschaft imHaus des Kidnappers Wolfgang Priklopil und von ihrer dramatischenFlucht am 23. August erzählte. Das 40-minütige TV-Interview mit derWienerin verfolgten am Mittwochabend im österreichischen FernsehenORF und zeitversetzt bei RTL insgesamt knapp zehn Millionen Menschen.

Kritik übte der Kriminalpsychologe Adolf Gallwitz: Der Gang in dieÖffentlichkeit sei nach seiner Einschätzung viel zu früh erfolgt unddiene in keiner Weise dem Wohl der 18-Jährigen, sagte der Professorder Polizeifachhochschule Villingen-Schwenningen (Baden-Württemberg)am Donnerstag in einem dpa-Gespräch. «Ich weiß nicht, ob derBetriebswirtschafter, der Medienspezialist oder der Psychiater indieser Berater-Gruppe gerade das Sagen hat», sagte Gallwitz.

Der Medienberater von Kampusch, Dietmar Ecker, verteidigte dasfrühe Fernsehinterview. «Erstens wollte sie wirklich in die Medien,und das ist nicht leicht, ihr das auszureden, ich muss das offensagen», sagte Ecker im Bayerischen Rundfunk. Nach intensivenBeratungen mit Psychologen habe man sich entschieden, «ein sehr, sehrgut vorbereitetes Interview zu machen, wo sie jene Teile bringt, diesie sich auch wünscht». Nach Ausstrahlung des TV-Interviews amMittwochabend sei bereits zu spüren, dass der «internationaleMediendruck» nachlasse. Interviews mit Kampusch waren auch in der«Westdeutschen Allgemeinen Zeitung», der österreichischen «KronenZeitung» und der Info-Illustrierten «News» erschienen.

Ihren Entführer bezeichnete Kampusch im TV-Interview als«Verbrecher» und paranoid. Weiter sagte sie, sie sei stärker gewesenals er. Auf Fragen nach ihrer Zukunft antwortete sie lächelnd undvoller Energie. Sie wolle «die Matura (Abitur) nachmachen, vielleichtstudieren. Und ich möchte eine Foundation gründen und Hilfsprojekteaufstellen.» Sie wolle sich um hungernde Menschen kümmern: «Ich habein meiner Gefangenschaft auch oft gehungert und habe miterlebt, wasman dadurch alles hat. Deshalb möchte ich mich dafür einsetzen».Zudem wolle sie sich für junge Frauen in Mexiko einsetzen, diegekidnappt und misshandelt werden.

«Ich bin so stolz auf sie», sagte Kampuschs Mutter Brigitta Sirny.«Dass sie die Flucht geschafft hat und so stark ist.» Sich jetztschon öffentlich zu zeigen, sei ihre Entscheidung gewesen, darüberwolle sie nicht urteilen. Der Vater der jungen Frau, Ludwig Koch,zeigte sich in der Sendung «stern-TV» beim deutschen Privatsender RTLam Mittwochabend berührt und erschüttert über die Schilderungen. BeiN24 sagte er am Donnerstag: «Der Wille hat ihr das Leben gerettet.»Er glaubt aber, «das hat sie zu viel innere Substanz gekostet. Ichhätte sie sich noch ein bisschen erholen lassen.»

Menschen aus der näheren Umgebung von Kampusch zeigten sichbeeindruckt vom Auftritt der 18-Jährigen: «Man kann sich das ja garnicht vorstellen», sagte etwa eine Bewohnerin aus der Siedlung, inder die Entführung geschehen war, dem ORF: «Sie muss unglaublichstark sein.» Ihre Betreuer baten am Donnerstag die Medien um eineRuhepause: «Sie braucht jetzt einige Tage Ruhe und Schutz.»

In Österreich hatten viele Menschen das Fernsehinterview inGaststätten gemeinsam verfolgt. Die junge Frau beeindruckte vor allemmit ihrer klaren, präzisen und gewählten Ausdrucksweise. Sieschilderte im Gespräch mit ORF-Journalist Christoph Feurstein vieleDetails aus den vergangenen acht Jahren und blieb über weite Streckengefasst. Sie gab sich gesprächig und mitunter humorvoll, auch wennsie manchmal Tränen in den Augen hatte und angespannt wirkte.

Auch wenn sie große Stärke zeige, habe sie eine «sehr weiche undsensible Seite», sagte ihre Betreuerin Monika Pinterits in derSendung «Runder Tisch» im ORF im Anschluss an das Interview. DerKoordinator ihres Beratungsteams, der Psychiater Max Friedrich,sagte: «Den Panzer braucht sie, um zu überleben in einer Welt, diesie nicht mehr kennt.»

Die Fachleute staunten über ihr «präzises Gerechtigkeitsempfinden»und die «hohe soziale und moralische Kompetenz» ebenso wie über dieAusdrucksfähigkeit der jungen Frau, deren einziger Bezugspunktjahrelang ihr Entführer war. Medien wie der Kultur- undInformationssender Ö1 und Zeitungen waren ihre einzige Verbindung zurAußenwelt.

Sie müsse nun vieles nachholen, etwa, wie man sich in derGesellschaft und in Begegnungen mit anderen Menschen verhält, sagteihr Psychologe Ernst Berger: «Das darf man nicht vergessen, wenn mandiese kompetente Frau erlebt.» Eine intensive therapeutischeBegleitung sei sicher noch über lange Zeit nötig.

Die «Westdeutsche Allgemeine Zeitung» hatte bereits am Mittwocheine kostenlose Extraausgabe mit 200 000 Stück Auflage auf den Marktgebracht, die nach Verlagsangaben rasch vergriffen war. Dieösterreichische «Kronen Zeitung» hat für die Publikation desInterviews mit Kampusch die Auflage der Donnerstagausgabe verdoppelt,sagte Lokalchef Claus Pandi der Nachrichtenagentur APA. Die Info-Illustrierte «News» druckte nach eigenen Angaben von der aktuellenAusgabe rund 450 000 Exemplare, 150 000 mehr als von einer normalenNummer.

Natascha Kampusch war am 2. März 1998 auf dem Weg zur Schule vonPriklopil entführt worden. Nach mehr als acht Jahren in seiner Gewaltgelang ihr am 23. August die Flucht vor dem 44-Jährigen, der sichwenig später selbst tötete. Seitdem wird sie medizinisch undpsychologisch betreut.