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Österreich Österreich: Entführte wurde acht Jahre lang in Verlies festgehalten

24.08.2006, 08:47
In Wien Leopoldstadt warf sich der mutmaßliche Entführer vor einen Zug. (Foto: dpa)
In Wien Leopoldstadt warf sich der mutmaßliche Entführer vor einen Zug. (Foto: dpa) APA

Wien/dpa. - Dramatisches Ende eines langen Martyriums: Nach achtJahren in einem Verlies bei Wien ist die entführte Natascha Kampuschwieder aufgetaucht, ihr Peininger beging wenige Stunden später aufder Flucht vor der Polizei Selbstmord. Die heute 18-Jährige konntesich am Mittwoch selbst aus ihrem Versteck befreien - einer nur dreimal vier Meter großen Grube in einer Garage. Sie war im Alter vonzehn Jahren am 2. März 1998 auf dem Weg zur Schule verschlepptworden. Nach Aussage eines Polizeisprechers wurde die blasse undabgemagerte Frau von ihrem Vater zweifelsfrei identifiziert. DerKidnapper, der 44 Jahre alte Elektrotechniker Wolfgang Priklopil,warf sich am Mittwochabend vor einen Zug bei Wien-Leopoldstadt undstarb.

Damit ist der spektakulärste Kriminalfall Österreichs dervergangenen Jahre aufgeklärt. Die junge Frau, die von ihrem Entführervon der Außenwelt fast vollständig isoliert wurde, befand sich amDonnerstag in der Obhut von Psychologen. Die Polizei teilte mit, dasssie den Täter im Zusammenhang mit dem Kidnapping bereits im April1998, nur wenige Wochen nach der Tat, ergebnislos vernommen hatte.

Kampusch, die auf dem Schulweg von Priklopil in einen weißenKastenwagen gezerrt und verschleppt worden war, lebte seither in dervon ihrem Entführer umgebauten Garage. Jahrelang musste sie ihrenPeiniger mit «Gebieter» ansprechen. Am Mittwochmittag konnte sie ausihrem Gefängnis fliehen, weil der Entführer vergessen hatte, die Türabzuschließen. Sie rannte völlig verwirrt in einen benachbartenGarten und rief der Nachbarin zu: «Ich bin Natascha Kampusch. Ich binentführt worden.»

Die junge Frau wurde inzwischen von ihrem Vater auch anhand einerNarbe zweifelsfrei identifiziert. «Nach menschlichem Ermessen gehenwir davon aus, dass es sich um Natascha Kampusch handelt», sagte einSprecher der Kriminalpolizei am Donnerstag in Wien nach Angaben derNachrichtenagentur APA. Bei einer Untersuchung des Tatorts in der9000-Seelen-Gemeinde Strasshof bei Wien fanden Beamte außerdem denReisepass des Mädchens.

Kampusch durfte in ihrem Gefängnis lesen und etwas fernsehen. DiePolizisten fanden Regale unter anderem mit Büchern undVideokassetten. Das Verlies habe alle nötigen Einbauten wie Toiletteund Bad gehabt, «man konnte dort wohnen», sagte der Polizeisprecher.Offensichtlich hatte der Täter den Umbau sorgfältig vorbereitet.

Der Kidnapper, ein Nachrichtentechniker, der von seinen Nachbarnals Einzelgänger beschrieben wurde, hatte am Mittwochmittag dieFlucht ergriffen, als er das Verschwinden seines Opfers bemerkte. AmAbend stürzte er sich dann vor einen Zug. Die Polizei hatte zuvoreine Großfahndung ausgelöst und alle Grenzkontrollen alarmiert.Kampusch gelang die Flucht, weil ihr zuletzt arbeitsloser Entführer«nachlässig geworden» sei, sagte ein Polizeisprecher.

Nach ihrer ersten, vorsichtig geführten Vernehmung sagte einPolizeisprecher am Mittwochabend, die junge Frau habe während derlangen Zeit mit dem Entführer offenbar eine besondere Beziehung zuihrem Peiniger aufgebaut. Ob der Mann sein Opfer sexuellmissbrauchte, ist noch ungeklärt. «Die Frau leidet an einem schwerenStockholm-Syndrom», sagte Erich Zwettler vom österreichischenBundeskriminalamt. Dieses Phänomen sei bei Opfern von Langzeit-Entführungen keine Seltenheit. «Die Ausweglosigkeit undHoffnungslosigkeit der Situation führt dann zu einer Identifikationdes Opfers mit dem Täter», sagte eine Psychologin demÖsterreichischen Rundfunk ORF.

Nach Angaben der Polizei war Priklopil bereits kurz nach derEntführung vernommen worden, weil er einen weißen Kastenwagen besaß.Nach Aussagen einer Augenzeugin war Natascha von einem Mann in einensolchen Wagen gezerrt worden. Priklopil hatte damals ausgesagt, dasser das Fahrzeug für Bauarbeiten benötigte. Mangels eines weiterenTatverdachts veranlasste die Polizei keine Hausdurchsuchung.

Wie es möglich war, dass der Täter das Mädchen acht Jahre lang vorden Augen der Nachbarn oder anderer Besucher verbergen konnte, istden Ermittlern ein Rätsel. Anscheinend ließ er sein Opfergelegentlich an die frische Luft. Dabei wurde es sogar von Zeugenbeobachtet, habe aber offenbar «nie um Hilfe gerufen».

Der heute 18-Jährige gehe es den Umständen entsprechend gut. «Siehat bereits gefrühstückt», sagte der Polizeisprecher. Kampusch wurdeinzwischen auch vom Tod ihres Entführers informiert. Wie sie daraufreagierte, ist nicht bekannt. Die seit Jahren getrennt lebendenEltern des Mädchens baten die Medien ausdrücklich um Verständnis,dass sie vorläufig keine Stellungnahmen abgeben wollen.