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Odenwaldschule Odenwaldschule: Übergriffe in der «Familie»

Von JÖRG SCHINDLER 07.03.2010, 19:25

FRANKFURT/MZ. - Der Frankfurter Rundschau liegt der Bericht des Altschülers Konrad Weigel (Name geändert) vom November 2009 vor. Weigel war von 1968 bis 1975 Schüler an der OSO und dort in der "Familie" des inzwischen verstorbenen Lehrers Wolfgang H. Von diesem sei er gleich zu Anfang, als knapp 13-Jähriger, aufgefordert worden, regelmäßig mit ihm ein "Mittagsschläfchen" zu machen, bei dem er stets im Intimbereich "angefasst und gestreichelt" worden sei. Alle anderen Jungen in der Familie hätten das als "normal und selbstverständlich" betrachtet.

Der damalige Lehrer H., der auch von anderen Alt-Schülern massiv belastet wird, habe sich seine Opfer mit Vorliebe im Chor ausgesucht, "wo die Jungen kurz vor dem Stimmbruch besonders gesucht waren". Bei einem Besuch des Adoptivvaters von H. habe sich dieser an den sexuellen Übergriffen beteiligt. Zudem berichtet Weigel von einem Ausflug der "Familie" auf eine Hütte, an dem auch der damalige Verleger einer Zeitung aus dem Neckar-Raum teilgenommen habe. Dort sei es "zu Übergriffen in der Gruppe" gekommen. Namentlich erwähnt Weigel einen ehemaligen Kunstlehrer an der Odenwaldschule, von dem er sexuell bedrängt worden sei.

Die Schulleiterin Margarita Kaufmann, die mit Weigel und etlichen weiteren Altschülern persönlich gesprochen hat, sagte, sie habe keinen Grund, an deren Aussagen zu zweifeln. Ein weiterer ehemaliger Schüler sagte der Frankfurter Rundschau, es habe an der Odenwaldschule keineswegs nur sexuelle Übergriffe von Lehrern gegen Jungen gegeben. Er wisse auch, dass "einige Mädchen etwas mit Lehrern hatten". In einem Fall sollen sich zwei Lehrer ein Mädchen als sexuelle Gespielin "geteilt" haben. "Es ging da in all den Jahren sehr freizügig zu."

In mehreren Fällen sollen Lehrer ihre jugendlichen Geliebten später geheiratet haben. Selbst wenn die Mädchen seinerzeit älter als 16 Jahre gewesen sein sollten, müsse man von sexuellem Missbrauch ausgehen, betonte der Ex-Lehrer Salman Ansari: Da an der OSO der Lehrer gleichzeitig "Familienoberhaupt" sei, übernehme er für seine schutzbefohlenen Schüler eine Art Vaterrolle, die in diesen Fällen schamlos ausgenutzt worden sei.

Der frühere OSO-Schüler Oliver Wisotzki (Name geändert) sprach von einer "Anti-Spießer-Hysterie", welche die Übergriffe in den 70er und 80er Jahren erst möglich gemacht habe. Wer seinerzeit etwas bemerkt und gesagt habe, sei "sofort als Spießer geächtet worden - das war grauenhaft", sagte Wisotzki. Eine unabhängige Kontrollinstanz habe ebenfalls gefehlt. Im Grunde hätte die Schulleitung eingreifen müssen, dort aber habe mit Gerold Becker derjenige gesessen, der die systematischen Übergriffe erst möglich gemacht habe. "Und da keine Krähe der anderen ein Auge aushackt, konnte dem niemand Einhalt gebieten." In dem von ehemaligen OSO-Schülern eingerichteten Internetblog (http: / /misalla.wordpress.com) berichtete ein anderer früherer Internatsschüler von einem "Familienausflug" in den Hunsrück. Dort habe der Klassenlehrer seine Hand in den Schlafsack des damals Zwölfjährigen gesteckt und angefangen, "an meinen Genitalien zu spielen".

Jahre später, so der Schüler, habe er den Lehrer auf einer OSO-Veranstaltung darauf angesprochen. Dessen Reaktion: "Mit etwas Speichel im Mundwinkel sagte er zu mir, wir hätten damals aber doch wirklich viel Spaß gehabt." Der beschuldigte Lehrer, dessen Name der FR bekannt ist, wehrt sich intern mittlerweile massiv gegen die Vorwürfe.

Ohnehin scheint unter den von den Altschülern als Täter genannten Ex-Lehrern die Nervosität zu wachsen. Der FR liegt ein Schreiben eines Pädagogen aus Heppenheim vor, in dem dieser von einem ehemaligen Schüler verlangt, umgehend Belege für seine Anschuldigungen zu liefern. Sollte dies nicht geschehen, werde "ich Anzeige wegen übler Nachrede und Verleumdung gegen Sie erstatten".

Sämtliche Vorwürfe sind nach bisherigem Kenntnisstand strafrechtlich verjährt. Die Altschüler erwägen nun allerdings umgekehrt, eine Verwaltungsklage anzustrengen, um auf diese Weise Versäumnisse der Hessischen Landesregierung aufzudecken.

Hintergrund sind Vorgänge aus dem November 1999, als die Frankfurter Rundschau erstmals über den jahrelangen Missbrauch durch den früheren OSO-Leiter Gerold Becker berichtete. Am Tag der Veröffentlichung, dem 19. November 1999, verfügte das Hessische Kultusministerium unter der neuen Ressortleiterin Karin Wolff (CDU), dass jede weitere Zusammenarbeit mit dem "Berater" Becker einzustellen sei. Auch sollte die Zulassung der OSO als staatlich anerkannte Schule überprüft werden. Dies ist offenbar nie geschehen.

Nach einer kurzen Schamfrist kehrte Becker in die angesehensten Pädagogikkreise Deutschlands zurück. Womöglich habe das wahre Ausmaß des Skandals auch deshalb noch weitere zehn Jahre vertuscht werden können, weil die Politik damals nicht ausreichend reagiert habe, sagte der betroffene Altschüler Jürgen Dehmers (Name geändert) der Zeitung. "Wir wollen jetzt wissen, was da schief gelaufen ist." Die amtierende hessische Kultusministerin Dorothea Henzler (FDP) versprach: "Wir werden uns das sehr genau ansehen und unseren Beitrag zur Aufklärung der damaligen Verhältnisse leisten."