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Nach der Atomkatastrophe Nach der Atomkatastrophe: Die neue Wildnis in Tschernobyl

Von Kerstin Viering 30.04.2016, 12:42

Mal hat die Kamera den aufmerksamen Blick eines Wolfes eingefangen, mal das üppige Hinterteil eines Bären oder die massige Gestalt eines Wisents. Es gibt Bilder von Elch-Müttern, deren Nachwuchs auf langen, dünnen Beinen durch den Birkenwald stakst. Die bedrohten Przewalski-Pferde sind gleich in Herdenstärke an der Linse vorbei getrabt. Von all den Rehen und Hirschen, Wildschweinen und Füchsen gar nicht zu reden. Die großen Säugetiere Europas scheinen Schlange gestanden zu haben, um sich von Mike Wood und Nick Beresford ablichten zu lassen. Mehr als 155.000 Aufnahmen der verschiedensten Arten haben die beiden Forscher von der University of Salford in Großbritannien 2015 zusammengetragen.

Das Überraschende ist der Schauplatz dieses Fotoshootings. Das Team hat seine von Bewegungsmeldern ausgelösten Kameras im Umkreis des explodierten Reaktors von Tschernobyl aufgestellt. Ist die Katastrophen-Region 30 Jahre nach dem Unfall zu einem Refugium für die Natur geworden? Trotzt die Tierwelt der Strahlenbelastung besser als gedacht? „Darüber gibt es unter Wissenschaftlern kontroverse Diskussionen“, sagt der Naturschutzbiologe Tobias Kümmerle von der Humboldt-Universität (HU) zu Berlin. Eine Fraktion von Forschern betont, dass die Radioaktivität für viele Arten massive Gesundheits- und Fortpflanzungsprobleme mit sich bringe. Die andere aber sieht durch den Rückzug des Menschen neue Chancen für die Tierwelt.

Direkt nach dem Unfall hatte die extrem hohe Strahlung verheerende Folgen für Pflanzen und Tiere. So sind auf einer Fläche von 600 Hektar fast alle Kiefern abgestorben. Auf weiteren 3.600 Hektar, die nicht ganz so hohe Dosen abbekommen hatten, bildeten diese Nadelbäume fünf bis sieben Jahre lang keine Samen.

In einer Entfernung von fünf bis sieben Kilometern um den Reaktor gingen die Bestände von Insekten und anderen Wirbellosen im Waldboden kurzfristig um das 30-fache zurück. Auch unter den Säugetieren dürfte die Strahlenbelastung Opfer gefordert haben. So waren etwa im Herbst 1986 im Umfeld des Reaktors nur sehr wenige Nagetiere unterwegs. Seither ist die radioaktive Belastung der Region deutlich zurückgegangen. Cäsium-137 und Strontium-90 haben eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren.

Radioaktiver Flickenteppich

Direkt tödlich sind die Strahlungs-Dosen für die meisten Organismen daher nicht mehr. Doch es gibt noch eine chronische Belastung, deren Folgen sehr schwer einzuschätzen sind. Wind und Niederschläge haben die Strahlung nach dem Unfall sehr ungleichmäßig verteilt. So ist eine Art radioaktiver Flickenteppich mit stark und weniger stark betroffenen Flächen entstanden. Anders Møller vom Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung (CNRS) in Paris und Timothy Mousseau von der University of South Carolina in Columbia befürchten schon bei relativ geringer Belastung massive Schäden für die Tierwelt. Sie berichten von hohen Mutationsraten und Fortpflanzungsproblemen etwa bei Rauchschwalben.

Was die Strahlung mit den Tieren macht

So gebe es rings um den Reaktor ungewöhnlich viele Tiere mit weißen Flecken, deformierten Federn und merkwürdigen Mustern im Gefieder. Auch Tumore und missgestaltete Zehen, Schnäbel oder Augen seien häufiger als anderenorts. Bei Männchen aus den mäßig belasteten Regionen um den Reaktor finde man mitunter mehr als 40 Prozent deformierte Spermien, normal seien eher fünf Prozent.

Geringere Lebenserwartung

Außerdem prognostizieren Anders Møller und seine Kollegen eine geringere Lebenserwartung für die Rauchschwalben im Umfeld des Reaktors: Die Chance, bis zum nächsten Frühjahr zu überleben und ins Brutgebiet zurückzukehren, liegt für diese Vögel demnach nur bei 28 Prozent. Andernorts überleben 40 Prozent. Die Forscher sind davon überzeugt, dass auch viele andere Arten mit solchen strahlungsbedingten Problemen zu kämpfen haben. In den Jahren 2006 bis 2009 haben sie die Brutvögel in verschiedenen Waldgebieten im Umfeld des Reaktors und in anderen Regionen Weißrusslands und der Ukraine erfasst. Dabei stießen sie in den belasteten Regionen auf weniger als die Hälfte der Arten, die sie erwartet hatten. Die Gesamtzahl der Vögel erreichte nicht einmal ein Drittel der üblichen Werte. Auch bei Insekten wie Bienen, Heuschrecken, Schmetterlingen und Libellen vermelden die Wissenschaftler in belasteten Gebieten reduzierte Bestände. Im Februar 2009 fanden sie dort deutlich weniger Säugetier-Spuren im Schnee als in weniger belasteten Regionen.

Gegensätzliche Studien

Allerdings sind etliche dieser Ergebnisse umstritten, mehrfach gab es Kritik an den angewandten Methoden und an mangelnder Transparenz der Daten. Und tatsächlich deuten andere Studien darauf hin, dass die Tierwelt rings um den Reaktor erstaunlich gut mit der Belastung zurechtzukommen scheint.

So hat ein Forscherteam um Jim Smith von der University of Portsmouth in Großbritannien im vergangenen Jahr eine erste Langzeituntersuchung über die Bestände von großen Säugetieren im weißrussischen Teil des Sperrgebietes veröffentlicht. Darin sind Daten aus direkten Zählungen eingeflossen, die Experten in den Wintermonaten der Jahre 1987 bis 1996 vom Hubschrauber aus durchgeführt hatten. Zum anderen waren Forscher zwischen 2008 und 2010 auch zu Fuß im Gelände unterwegs, um nach Spuren im Schnee zu suchen. Die Ergebnisse sind verblüffend: „Heute gibt es in der Region von Tschernobyl wahrscheinlich viel mehr Wildtiere als vor dem Unfall“, meint Jim Smith.

Zwar könne man aus diesen Daten keine direkten Rückschlüsse auf die Langlebigkeit oder den Fortpflanzungserfolg der einzelnen Tiere ziehen, schreiben die Forscher im Fachjournal Current Biology. Doch ein Zusammenhang zwischen der Intensität der Strahlung und der Größe der Bestände lasse sich nicht erkennen. Die von den Kamerafallen von Mike Wood und Nick Beresford abgelichteten Braunbären sind die ersten, die in der Region seit rund hundert Jahren nachgewiesen wurden.

Erfolgreiche Fortpflanzung bei Przewalski-Pferden

Und die 30 Przewalski-Pferde, die Ende der 90er Jahre im ukrainischen Teil des Sperrgebietes angesiedelt wurden, können sich offenbar durchaus erfolgreich fortpflanzen. „Das alles heißt nicht, dass Strahlung gut für Wildtiere wäre“, betont Jim Smith. Sehr wohl aber habe die Fauna vom Rückzug des Menschen aus der Region profitiert. Tobias Kümmerle von der HU hält das für plausibel. „Im und um das Sperrgebiet wurden weitläufige Ackerflächen, Wiesen und Weiden aufgegeben und einer natürlichen Entwicklung überlassen“, erklärt er. Dort haben sich nach dreißig Jahren zahlreiche Gehölze angesiedelt, langfristig dürften Wälder einen guten Teil der neuen Wildnis zurückerobern.

Das bringt auch für viele Tiere neue Chancen, ihre Bestände können sich schnell erholen. Kümmerle hält es durchaus für möglich, dass die Strahlenbelastung langfristig noch negative Folgen für die Tierbestände haben könnte. „Derzeit aber scheint der positive Effekt durch die vom Menschen ungestörten Lebensräume zu überwiegen.“

Bilder wie aus einem russischen Märchen: Eine Rotte Wildschweine zieht an verlassenen Holzhäusern vorbei.
Bilder wie aus einem russischen Märchen: Eine Rotte Wildschweine zieht an verlassenen Holzhäusern vorbei.
Valeriy Yurko
Wölfe in der Sperrzone von Tschernobyl.
Wölfe in der Sperrzone von Tschernobyl.
Jim Beasley/Sarah Webster