München München: Kunst nach Maß

München/MZ. - Die flache Kante schabt sich in den Lederrahmen an der Spitze der Schuhsohle. Ganz langsam, kratzend bewegt sich das scharfe Werkzeug hin und her und löst Stück für Stück das fasrige Material heraus. Es riecht nach Leim und gegerbten Leder. „Ein Schuh sollte die Persönlichkeit des Trägers unterstreichen.“ Meister Manuel Pohl, groß, mit kräftigen Händen, hält inne und taucht den Pinsel in die Aluminiumbüchse mit dem Trenn- und Lösemittel. Der Rand der Schuhspitze wird mit der scharfen Flüssigkeit getränkt, die Sohle durch den Schraubenzieher leicht angehoben.
Konzentriert beugt sich der 35-Jährige mit graudurchsetztem kurzem Haar über den Schuh, hält ihn zwischen seinen Beinen fest. Er drückt ihn an seine verwaschene rote Arbeitsschürze mit dem aufgedruckten weißen Doppeladler-Emblem der Schuhmacherinnung. Das weiße einfache T-Shirt unter dem Arbeitsschutz spannt ein wenig an den breiten Schultern. Mit der Beißzange werden die kleinen von unten in den Schuh eingeschlagenen Nägel vorsichtig herausgelöst. „Früher wurden noch alle Schuhe von Hand und nach Maß gefertigt. Aber heute leisten sich nur wenige Menschen diesen Aufwand.“
An den Wänden der Werkstatt reihen sich in einfachen Regalen die Leisten genannten Holzformen für jeden einzelnen Schuh seiner Kunden. Jedem wird nach Mode, persönlichem Geschmack und Fußeigenschaften ein einzigartiger Schuh angepasst. Bis zur Fertigstellung eines solch exklusiven Schuhs können gut 40 Arbeitsstunden vergehen.
Die Türglocke schrillt aus dem Verkaufsraum heraus. Manuel Pohl richtet sich auf, legt die Werkzeuge und den bearbeiteten Schuh auf den schweren Arbeitstisch aus dunkelbraunem Holz. Ein kleines Stück des Schaufensters und der wuchtigen Ladentheke sind durch die Tür des Werkstattzimmers zu sehen.
Ein Stück Himmel aus Halle
Jürgen Weitz begrüßt seinen Schuhmacher herzlich und nimmt in einem Nebenraum Platz. Er ist zugleich Kundenzimmer und Büro des kleinen verwinkelten Schuhmachergeschäfts. Im Fenster steht eine schwere gusseiserne Waage. Gegenüber flackert ein kleiner Computerbildschirm auf dem Schreibtisch. Lange Neonröhren an der weiß getünchten Decke beleuchten Möbel und Arbeitsgeräte. Neben den einfachen schwarzen Plastikstühlen steht ein stählerner Hochsitz. Das Polster und die Fußstütze sind mit grauem Kunstleder überzogen. Pohl lacht: „Das ist mein Gynäkologenstuhl, schrecklich in dieser Farbe.“ Er wird kaum benutzt. Jürgen Weitz hat es sich lieber auf einem der Plastikstühle bequem gemacht.
An der schmucklosen Zimmerwand hinter dem 50-Jährigen bauschen sich Wolken um einen Flecken blauen Himmels. Die Leinwand mit breitem grauem Rahmen nimmt den Großteil des Platzes ein. Es ist ein Gemälde des halleschen Künstlers Florian Klingele. Dem an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein ausgebildeten Maler hat er im Gegenzug ein paar exklusive Schuhe angefertigt. „In meiner Wohnung hängt noch ein zweites von ihm“, freut sich Manuel Pohl. Schon zehn Jahre kennt er Halle und hat es immer wieder besucht. Aber leben und arbeiten will er nicht an der Saale. „Es ist einfach nicht meine Stadt.“ Die Freundschaft mit Klingele hat Bilder aus Halle in das Geschäft in der Münchner Geyerstraße, zwischen Südfriedhof und Wittelsbacher Brücke, kommen lassen und seine Schuhe nach Mitteldeutschland. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda bekommt Pohl die meisten Kunden. Und aus der Nachbarschaft. Für diese repariert er auch gelegentlich Schuhe, obwohl er das aus Zeitgründen eigentlich aufgegeben hat.
Kreativität und altes Handwerk
Weitz, der einen orthopädischen Schuh benötigt, hat ein älteres reparaturbedürftiges Paar mitgebracht. Rotes Leder mit Lochmuster, genähter Rand. Dass es ein therapeutischer Schuh ist, sieht man ihm nicht an. Aber vor allem will er diesmal das Leder und die Machart für ein neues Modell besprechen. Für ihn ist es immer das schwierigste, die Farbe und das Modell auszuwählen. Schon insgesamt 15 Maßschuhe hat er anfertigen lassen. Zuerst bei Pohls Vorgänger und nun, nach der Geschäftsübernahme, seit zwei Jahren von ihm. Der Meisterbrief für Manuel Pohl hängt eingerahmt hinter dem 90er-Jahre-Schreibtisch. „Man merkt, dass neue Techniken angewendet werden, und so wenige Probleme beim Einlaufen der Schuhe hatte ich noch nie.“
Manuel Pohl neigt den Kopf ernst und freut sich über das Kompliment. Seit 2000 fertigt er nun schon Schuhe nach Maß, hat sich zum Orthopädieschuh-Techniker ausbilden lassen und später bei einem renommierten Schuhmacher aufwendige, kaum noch benutzte Fertigungsarten erlernt. „Eigentlich habe ich mir keine Gedanken gemacht, aber das alte, kaum noch ausgeübte Handwerk und die Kreativität bei der Herstellung haben es mir angetan.“ Pohl trägt selbst seine eigenen Schuhe, schon allein wegen der Größe. „Man erkennt einfach, ob Schuhe zu einem passen und wenn sie sich richtig anfühlen.“
Aus den hohen Regalen des Vorraumes holt er Rollen aus schwarzem Leder. Mit geübten Fingern streicht er über die Oberfläche, erklärt dem wartenden Jürgen Weitz den Unterschied zwischen dem festen und kernigeren Bocxcalfleder und einem weicheren genarbten. Schnell sind sie sich einig. Ein ähnliches Modell wie das vorhergehende soll es werden. Nur mit einem stärkeren Profil für den Winter.
Teure Schuhe für ein ganzes Leben
Wieder klingelt die Türglocke laut und ein junger Mann mit verwuselten Haaren, einen blauen Stoffrucksack lässig über der Schulter, tritt in den Verkaufsraum des Geschäfts. „Was kosten denn ein paar Schuhe bei Ihnen?“ Pohl fährt sich durch das Haar, überlegt einen Moment. „Je nach dem, was Sie wollen. Aber 1.200 Euro werden es schon sein.“ „Oh, da muss ich wohl noch eine Weile arbeiten“, grinst der junge Mann.
Später sitzt Manuel Pohl wieder an seinem Arbeitstisch im hinteren Teil der Werkstatt, nimmt die Kaffeetasse in die Hand, trinkt einen Schluck. „Ich habe viel mehr Ideen, als ich je umsetzen kann.“ Ihm ist es wichtig, dass sich seine Kunden wohlfühlen, auch jenseits von schnellwechselnder Mode. Ein von ihm hergestellter Schuh hält gut 30 bis 40 Jahre, fast ein ganzes Leben. „Viele Menschen wollen wieder Wertiges und Langlebiges haben, auch wenn es einiges kostet.“