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Medizin Medizin: Goethe konnte im Alter nicht mit den Zähnen klappern

Von Klaus Schlösser 18.05.2004, 06:03
Zahnarzt Werner Neuhauser zeigt am Freitag (14.05.2004) in Kempten auf eine Abbildung in einem Fachbuch zur Gwschichte der Zahnmedizin. (Foto: dpa)
Zahnarzt Werner Neuhauser zeigt am Freitag (14.05.2004) in Kempten auf eine Abbildung in einem Fachbuch zur Gwschichte der Zahnmedizin. (Foto: dpa) dpa

Kempten/dpa. - Bayerns Märchenkönig Ludwig II. hatte schwarze,von Karies zerfressene Zähne. Goethe besaß im Alter nur noch einigewenige Zähne. Dass er damit bei Kälte klappern konnte, wiezeitgenössische Biografen behaupteten, sei «eine glatte Lüge»,erklärt der Kemptener Zahnarzt Werner Neuhauser, der sich seit 30Jahren mit prominenten Gebissen beschäftigt. Goethe war - seinenNachforschungen zufolge - im Alter nahezu zahnlos. Mit 90Publikationen in Fachzeitschriften hat Neuhauser sich alsZahnhistoriker einen Namen gemacht.

   Seine Forschungen über Goethes Zähne, die er vor 20 Jahrenbegonnen hat, haben dem inzwischen 77-jährigen Arzt zahlloseBeschimpfungen von Verehrern des Dichterfürsten eingetragen. Siewollen sich einen so herausragenden Kopf der deutschen Literaturnicht zahnlos vorstellen, zumal Goethes Leibarzt den Dichterfürstenstets als einen nie alternden, vor Manneskraft strotzenden Menschenbeschrieben hatte.

   «Eigentlich liebe ich die Kunst, die Literatur und die Geschichte.Aber wenn ich auf solche Dinge stoße, dann verfolge ich sieschlichtweg», sagt der Zahnmediziner, der seine Praxis längstaufgegeben hat. Bei Bildern des Habsburger Königshauses, dasEheschließungen innerhalb der Familie als Mittel der Politikbetrachtete, fiel ihm auf, dass der Kinnladen im Laufe derGenerationen immer größer und hervorstehender wurde. Dies veranlassteNeuhauser 1974 zu seiner ersten Veröffentlichung: «Beispiele einerPotenzierung von Erbmerkmalen infolge von Inzucht.»

   Auffälligkeiten über Zähne und Gebisse fand der Kemptener nichtnur in Museen. Im Alten Testament entdeckte er Hinweise aufZähneknirschen als Folge von Ernährungsmangel. In der Rokoko-Zeitverkauften Bürger ihre selbst gezogenen Zähne an reiche Leute, diesich diese «Prothesen» mit Goldfäden in den Mund banden. Neuhauserschrieb Aufsätze über die Wikinger, über Cäsar, Don Quichotte, Lutherund Alexander von Humboldt.

   Bei einer Veröffentlichung über die Geschichte der Zahnmedizinverwies er verschmitzt auf die Zeichnung einer Extraktion von 1523,die den Patienten, den Zahnzieher und eine Frau zeigt, die demSchmerzgeplagten während der Behandlung den Geldbeutel aus derGesäßtasche zieht. «Ein Bild, dem irgendwie noch bis heute Gültigkeitnachgesagt wird», schmunzelt er.

   Als 77-Jähriger ist der Kemptener Zahnarzt inzwischen zu derErkenntnis gelangt, dass ihn der Blick auf den Mund von dereigentlichen Kunst vieler Bilder abgelenkt hat. Seinen Nachholbedarfwill er im Sommer bei einer Radtour durch Flandern stillen. Vonseinem Beruf hat sich Neuhauser aber noch lange nicht verabschiedet.Als Dozent an der Akademie für Zahnärztliche Weiterbildung hält ernoch Vorlesungen über die «Arbeitshaltung des Zahnarztes». Denn nebender Kunst und der Psychosomatik ist die Ergonomie ein weiteres Hobbydes rastlosen Kempteners.