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«Leichentourismus» «Leichentourismus»: Jährlich verschwinden Leichen ins Umland

13.11.2002, 10:04

Frankfurt/Main/dpa. - Im Angesicht des Todes sprechen die meisten Menschen nicht gerne über Geld. Dabei haben extreme Kostenunterschiede für Verbrennungen und Grabplätze an vielen Orten der Bundesrepublik zu einem ständig wachsenden Leichentourismus geführt. Verantwortlich für die eklatanten Gebührendifferenzen sind in aller Regel die Kommunen oder die von ihnen kontrollierten Unternehmen. Pietät und Letzter Wille der Verstorbenen drohen nach Expertenmeinung im knallharten Geschäft mit den Leichen auf der Strecke zu bleiben.

Nach Erhebungen des Verbraucherschutzvereins «Aeternitas» kostet Leistungen der Bestatter summieren sich die Kosten selbst für eine schlichte Bestattung schnell auf 5000 Euro. Darin sind die politisch beschlossenen Gebührenordnungen nach Auffassung des auf Krematorien- Technik spezialisierten Ingenieurs Robin Sircar «total intransparent». Besonders teuer sei es dort, wo sich ein Monopol herausgebildet habe, sagt der «Aeternitas»-Vorsitzende Hermann Weber.

Vergleichsweise preiswert bieten die hoch ausgelasteten Krematorien in den östlichen Bundesländern ihre Leistungen an. Dort war zu DDR-Zeiten die anonyme Urnenbestattung üblich und erfreut sich bis heute hoher Beliebtheit - zumal sich bundesweit die Trends zu Verbrennungen und anonymen Bestattungen seit Jahren verstärken. In der Stadt Frankfurt am Main haben sich Altenheime und Krankenhäuser, aber auch zahlreiche Privatleute bereits für die deutlich billigere Alternative im östlichen Nachbarland entschieden.

«In der Regel nehmen Institutionen das Billigste», sagt der Frankfurter Bestatter Wolfgang Schmidt, der als günstigste Variante Kremation und anonyme Urnenbestattung in Großgruppen in den thüringischen Orten Pößneck und Waltershausen im Angebot hat. Auf seiner Kundenliste finden sich vor allem Krankenhäuser und Pflegeheime, die für ihre Verstorbenen keine zahlungspflichtigen Angehörigen mehr finden. Einäscherung und Grabplatz kommen im Kreis Gotha fast 900 Euro günstiger als am Main, so dass sich die 200 Kilometer lange Fahrt lohnt, berichtet Schmidt, der sich nicht in der Verantwortung sieht. «Ich bin Dienstleister. Die Gebühren sind bei mir nur durchlaufende Posten. Die Entscheidung liegt bei den Kunden.»

Die Frankfurter Stadtverwaltung sieht sich entgegen anders lautender Vorwürfe des Obdachlosen-Vereins «Lobby e.V.» auf der sicheren Seite: «Bei uns muss niemand auf eine schlichte würdige Bestattung verzichten, nur weil er Sozialhilfeempfänger war», sagt Sozialamtschef Ingo Staymann. Die Stadt zahle im Zweifel auch die teurere Erdbestattung im Reihengrab und verweise niemanden nach Thüringen. Das Ordnungsamt hat Sprecher Klaus Diekmann zufolge mit der «Pietät Schmidt und Partner» einen Vertrag abgeschlossen, nach dem die rund 200 jährlichen «Ordnungsamtsleichen» (meist Obdachlose und Fundleichen) in Frankfurt verbrannt und bestattet werden.

Kenner wie der Präsident des Bundesverbands Deutscher Bestatter (BDB), Wolfgang H. Zocher aus Wuppertal, zweifeln daran, dass all diese Menschen zu Lebzeiten tatsächlich ihr Einverständnis gegeben haben, nach ihrem Tod verbrannt zu werden. Anders als Angehörige dürften Institutionen seiner Auffassung nach keine Feuerbestattung anordnen, meint Zocher. «Da bewegen sich Kommunen und Heime in einer Grauzone.» Aeternitas rät, zu Lebzeiten die genauen Wünsche für die eigene Bestattung schriftlich festzuhalten.

Weitere Zentren des Leichentourismus sind Berlin und Nordrhein- Westfalen, wo in Brandenburg beziehungsweise in den Niederlanden deutlich günstigere und flexiblere Anbieter ihre Geschäfte machen. Nach Webers Schätzung werden jährlich in niederländischen und belgischen Krematorien mindestens 10 000 Deutsche verbrannt. Viele Angehörige schätzen dabei die liberale Praxis in den Niederlanden, die Asche mit nach Hause nehmen zu dürfen. Aus Berlin verschwinden jährlich 3000 bis 5000 Leichen ins Umland, sagt Weber und nennt noch einmal den Grund für den Leichentourismus: «Auslösendes Moment ist das Geld.»