Klassenfeind aus Stein
Dessau/MZ. - Die Angst ist in den Unterlagen greifbar. IMs werden befragt, Flugblätter sichergestellt, Berichte geschrieben. Die Stasi weiß, der Name Stones, er wirkt. Und wirklich: Obwohl die Stones nicht spielen, weil sie nie spielen wollten, pilgern am 7. Oktober tausende Jugendliche zur Mauer. Die Volkspolizei muss Schlagstöcke und Hunde einsetzen. Die Stones-Fans rufen "Wir wollen Stones". FDJ-Ordner antworten laut MfS-Akten mit "Hochrufen auf die Partei der Arbeiterklasse". Am Ende sitzen 430 Jugendliche in Sammelstellen der Polizei.
Die Stones, die heute vor 50. Jahren im Londoner Marquee-Club zum ersten Mal auftraten, machen den staatlichen Organen der DDR wieder Ärger. Hatte die offizielle Kulturpolitik die Band von Mick Jagger und Keith Richards am Anfang noch mit Nichtbeachtung gestraft, während die Beatles sogar Platten beim Staatslabel Amiga herausbringen durften, änderte sich diese Sicht schon 1965 radikal. Nach einem Konzert der Stones in der Westberliner Waldbühne, das in Krawallen endet, erklärt die SED-Spitze den "westlichen Beat" zur "Hottentottenmusik" (Walter Ulbricht), die Ausdruck "kapitalistischer Dekadenz" sei.
So etwas hat im Sozialismus keinen Platz. Also sollen auch die Fans der Stones keinen haben. "Sie tragen lange, teilweise vor Schmutz starrende Haare und bewegen sich stumpfsinnig in frivolen Rhythmen", beschreibt die "Leipziger Volkszeitung". FDJ-Gruppen beginnen, "Langhaarige" zwangszuscheren. "Gammler" werden von der Straße weggefangen. Kulturminister Klaus Gysi warnt davor, "auftretende Tendenzen westlicher Unkultur" zu unterschätzen: "Beat-Musik nach dem Vorbild der Rolling Stones darf kein Raum gegeben werden."
Der Klassenfeind ist aus rollendem Stein. Behörden in der DDR verbieten nun junge Rockbands. In Leipzig bricht aus Protest der Beataufstand los. Jugendliche wie der gerade 19-jährige Beatfan Bernd Prätorius werden verhaftet und ohne Gerichtsurteil zur Besserung in Braunkohletagebaue transportiert.
Schuld ist der Rock, schuld sind letztlich Jagger, Richards, Charlie Watts, Brian Jones, Mick Taylor und später Ron Wood. "Was soll ein armer Junge tun, als in einer Rock'n'Roll-Band zu singen", hatte Jagger zwar bei "Street Fighting Man" gereimt. Für DDR-Verhältnisse ist auch das schon zu viel.
"Zum ersten Mal habe ich die Stones bei meiner großen Schwester aus einem Stern-Rekorder mit Holzgehäuse gehört", erinnert sich Ralf Klein von der Heavy-Metal-Band Macbeth. Das Lied hieß natürlich "Satisfaction" und "die Stromgitarre am Anfang fand ich sofort so spektakulär, dass die sich bis heute festgebrannt hat". Eigentlich aber, sagt der Gitarrist aus Erfurt, dessen Band zu DDR-Zeiten verboten wurde, "haben uns die Stones mehr durch ihr rotziges Auftreten als durch die Musik imponiert". Lange Haare, tolle Songs und kein Respekt vor Institutionen - für zwei Generationen DDR-Bürger reicht das, um in dem Quintett Idole zu sehen. Das lässt die Partei um ihren Einfluss fürchten. "Kunst ist Waffe im Klassenkampf", legte SED-Chefideologe Kurt Hager fest. Für Erich Honecker sind die Briten rätselhafterweise "Verbreiter der amerikanischen Unmoral und Dekadenz". Ihr Auftreten zersetze die Moral, ihre Musik fördere Gewalt und die "sexuelle Triebhaftigkeit".
Für Fans wie Thomas Schoppe aus Eisleben, später Sänger vonRenft, die als die "Stones der DDR" gelten, kein Grund, Jagger und Co. die Gefolgschaft zu kündigen. Im Gegenteil. Renft spielen "Lady Jane" nach, ihre "Rockballade vom kleinen Otto" ist der "Street Fighting Man" der DDR: "Manchmal sagte Otto, Leben ist wie Lotto, nur die Kreuze macht ein Funktionär".
Je mehr aber die Jugend den Sound der Freiheit aus Richards Gitarre hören, je energischer versucht der Staat, die Stones stummzuschalten. Bis 1974 dürfen sie nicht im Radio gespielt werden. Ehe 1982 die eine Platte bei Amiga erscheint, erzielen eingeschmuggelte Originalscheiben im illegalen Handel Rekordpreise von mehr als 100 DDR-Mark.
Matthias Winkler beginnt seine Beziehung zu den Stones, als die schon geduldet werden, aber noch eine ganze Welt entfernt sind. Unerreichbare Superstars, deren Name nach Freiheit schmeckt. "Die Stones haben mich durchs Leben begleitet" sagt der Chef des Konzertveranstalters Mawi Concerts, der mit "It's only Rock'n'Roll, but we live it" die Abwandlung einer Stones-Zeile am Auto spazieren fährt. Vor 17 Jahren hat Winkler dann das Glück, das erste Konzert der Giganten in Leipzig gemeinsam mit anderen Partnern organisieren zu dürfen. "Das ist die Erinnerung für mich", sagt er. "Greif deine Träume, bevor sie verschwinden", sang Jagger vor 45 Jahren in "Ruby Tuesday", als Matthias Winkler gerade geboren wurde. Mittlerweile hat der Hallenser Stones-Trommler Charlie Watts persönlich kennengelernt. Ein Augenblick, in dem die Geschichte für ihn so ein ganz klein bisschen stillgestanden hat. Niemals habe er das früher auch nur zu hoffen gewagt, sagt Matthias Winkler. "Und das ist so ein netter, freundlicher Mann, absolut ohne Allüren."
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