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Kinderarzt erklärt Kinderarzt erklärt: Darum machen Hausaufgaben und Prüfungen Kinder nicht klüger

10.09.2019, 12:45
Der Schweizer Kinderarzt Remo Largo sagt, dass Hausaufgaben und Prüfungen die Kinder nicht klüger machen, sogar viel mehr frustrieren können.
Der Schweizer Kinderarzt Remo Largo sagt, dass Hausaufgaben und Prüfungen die Kinder nicht klüger machen, sogar viel mehr frustrieren können. www.imago-images.de

Halle (Saale) - Im Interview mit dem deutschen Schulportal stellt der Schweizer Kinderarzt Remo Hans Largo, der durch seine Bücher „Babyjahre“ und „Kinderjahre“ bekannt geworden ist, diese provokante These auf: 

„Weder Hausaufgaben noch Prüfungen machen die Kinder klüger, aber das wollen wir nicht wahrhaben."

Remo H. Largo begründet seinen Standpunkt wie folgt:

Dabei gehe es nicht per se um die Abfrage der Leistung durch beispielsweise Prüfungen, sondern das Problem sei dabei die Benotung.

Wenn Kinder nämlich nur für eine gute Note lernen und dabei den Prüfungsstoff wie beim sogenannten Buliemie-Lernen kurz vorher unter enormen Druck in sich „hineinfuttern" und währen der Prüfung „ausspucken", dann gehe das Gelernte nicht ins Langzeitgedächtnis über.

Würde man dann unvorbereitet zwei Wochen später den Lernstoff erneut abfragen, wäre er meist wieder vergessen. Verstanden haben Kinder das Gelernte also nicht.

Laut Largo leben wir in einer Leistungsgesellschaft, die eine existenzielle Verunsicherung bei allen Beteiligten hervorruft. Immer höher, immer weiter, immer schneller. Das erzeuge viel Druck, vor allem zu lasten der Kinder. 

Das habe negative Auswirkungen, weil Kinder dann nicht selbstbestimmt lernen, sondern nur, weil es ihnen jemand sagt. Das würde sie irgendwann zu Befehlsempfängern machen.

„Das ist verheerend für das Selbstwertgefühl und die Selbstwirksamkeit. Und es macht die Kinder passiv. Wir können dann nicht erwarten, dass diese Kinder, einmal erwachsen, Eigenverantwortung übernehmen, genuin neugierig sind und Initiative ergreifen", erklärt Largo im Interview.

Wenn nicht durch Hausaufgaben und Prüfungen - wie dann?

Seiner Ansicht nach würden Kinder mit selbstbestimmten Lernen erfolgreicher sein, denn durch ausreichend eigene Erfahrungen verstünden Kinder das Gelernte und dessen Zusammenhänge besser. Largo erzählt im Interview weiter: „Jedes Kind will lernen, aber auf seine Weise und in seinem Tempo."

Es müsse nur die Chance bekommen, von seinem persönlichen Entwicklungsstand aus, einen Schritt vorwärts machen zu können. Gemäß des Mottos: Erst krabbeln, dann gehen und erst dann rennen. Es wäre somit wichtig, dass kein Schritt übersprungen werde, aber auch nicht immer wieder ein und derselbe Schritt getätigt werde.

So könne selbstbestimmtes Lernen in Schulen gefördert werden:

Largo zieht dafür das Beispiel einer Klasse mit 20 siebenjährigen Schülern hinzu, die lesen lernen sollen: Da jedes Kind verschiedene Stärken und Schwächen habe, variiere der Entwicklungsstand erheblich unter ihnen.

Damit jedes Kind beim Lesen Lernfortschritte machen könne, müsse den Schülern eine Auswahl verschiedener Texte zur Verfügung stehen, aus denen die Kinder frei wählen dürfen. „Das Kind wird nicht zum einfachsten Text greifen, sondern jedes Kind wird den Text wählen, bei dem es das Gefühl hat: Den schaffe ich."

Weder Über- noch Unterforderung fördern Lernerfolge

Bekämen hingegen alle Schüler den gleichen Text, dann würden ein Teil überfordert sein und der andere Teil würde sich langweilen - beides fördere ein erfolgreiches Lernen nicht.

Damit einher geht dann allerdings auch eine Kritik, die das deutsche Schulsystem betrifft, denn solch eine individuelle Förderung gibt es bisher kaum in deutschen Schulen, wie das deutsche Schulportal hervorhebt.

Das dieses System so aber nicht funktioniere, zeige sich anhand des Ergebnisses des PISA-Tests. Demnach sei beim Lesen ein Sechstel der Schüler nach neun Schuljahren gerade einmal auf dem Stand der vierten und fünften Klassen. „Das ist doch ein Desaster!", so Largo.

Das könnten Eltern machen, um selbstbestimmtes Lernen zu fördern

„Ich finde es überaus wichtig, dass Eltern das Kind ernst nehmen" und die Stärken des Kindes fördern.

Schwächen, die in vielen Fällen sowieso nicht geändert werden könnten, sollten akzeptiert werden. Das Kind müsse eher lernen, mit diesen Schwächen umzugeben und dass es dadurch kein Versager sei.

„Die Eltern sollten immer auf der Seite des Kindes stehen und sich nicht zu Komplizen der Schule machen", auch wenn dies nicht immer leicht sei. Jedoch hänge der Lernerfolg insbesondere durch „vertrauensvolle Beziehungen zwischen Kindern, Eltern und Lehrkräften" ab.

Und das könnten Lehrer tun, um Lernerfolge zu fördern

Am Anfang des Schuljahres könnten Lehrer die Schüler und ihre Familien zu Hause besuchen. Largo wisse, dass das nicht im Lehrplan stehe und zeitaufwendig sei. Jedoch würde sich der Zeitaufwand, den die Lehrer in die Beziehungen außerhalb der Schule stecken, lohnen, um langfristig gesehen während der Schulzeit einen höheren Mehrwert und Lernerfolg zu erzielen

„Aber eine gute Beziehung aufzubauen, braucht schon Zeit. Da reicht es nicht, nur einen Elternabend im Halbjahr anzubieten, an dem die Schule die Pflichten auflistet, die Eltern und Kinder zu Hause für die Schule zu erfüllen haben." (mz)

Remo Hans Largo ist ein Schweizer Kinderarzt und Fachbuch Autor von Sachbüchern über kindliche Entwicklungen.

Seit den 90er-Jahren sind seine Bücher „Babyjahre“ und „Kinderjahre“ Bestseller.

Des Weiteren beschäftigt sich der Kinderarzt in „Schülerjahre“ und „Lernen geht anders“ voranging damit, wie die Schule dem individuellen Lernverhalten der Kinder gerecht werden kann.

2002 gewann er den Preis für angewandte Psychologie des Schweizerischen Berufsverbandes für angewandte Psychologie (SBAP) und 2006 den Bildungspreis der Pädagogischen Hochschule Zürich.