Invasion aus dem Hohen Norden Invasion aus dem Hohen Norden: Tundra-Vögel erobern Deutschland

Berlin/Senftenberg/dpa. - Die gefiederten Wintergäste sind selten, bunt und laut: Zehntausende Seidenschwänze aus Nordosteuropa faszinieren derzeit Naturfreunde von der Ostsee bis zum Alpenrand. Vogelkundler des Dachverbandes Deutscher Avifaunisten sprechen von einem Naturphänomen im Winter, das in diesem Ausmaß selten zu beobachten ist. Sie haben die bedeutendsten Invasionen der Vögel in der Lausitz, rund um Berlin, in Mecklenburg-Vorpommern sowie zwischen München und dem Alpenrand registriert.
Ruf klingt nach Klirren eines Schlüsselbundes
Die Seidenschwänze, die rund 18 Zentimeter lang sind und damit etwa so groß wie Stare, lassen sich selbst von Menschen nicht stören. So haben sich Hunderte der Vögel mit rotgefiederten Haubenköpfen, schwarzen Augenbinden und gelbem Schwanzende in den Bäumen am Ufer des Senftenberger Sees in der Lausitz versammelt. Der trillernde Ruf dieser Vögel klingt wie das Klirren eines Schlüsselbundes. Sind die Tiere mal nicht zu hören, lassen sie sich vermutlich gerade Beeren schmecken.
„Seidenschwänze bevorzugen Mistelbeeren, die besonders auf älteren Bäumen wachsen“, sagt der Senftenberger Ornithologe Heiko Michaelis. „Es ist kein Wunder, dass die Vögel großen Hunger haben, schließlich liegt eine Reise von Tausenden Kilometern aus dem Nordosten hinter ihnen.“ Ursprünglich sind Seidenschwänze in der russischen Tundra sowie im skandinavischen Lappland zu Hause. „Doch im Hohen Norden scheinen die Beeren knapp geworden zu sein“, meint Michaelis.
Dies bestätigt Lars Lachmann, Referent für Ornithologie und Vogelschutz beim Naturschutzbund Deutschland (Nabu) in Berlin. Im vergangenen Jahr habe es bei Seidenschwänzen einen guten Bruterfolg gegeben, zugleich sei das Nahrungsangebot geringer geworden. „Dadurch entstehen die Invasionen in südlich gelegene Gebiete“, erläutert Lachmann. Warum die Seidenschwänze gerade Ost- und Süddeutschland als Reiseziel bevorzugen, begründet der Nabu-Vogelkundler mit der geografischen Nähe zu den Brutgebieten und dem großen Futterangebot auch im Winter.
6556 Seidenschwänze gezählt
Wie die Nabu-Zählung der Wintervögel im Januar ergab, hat sich der Seidenschwanz in Bayern durch die jüngste Invasion vom 60. auf den 20. Platz der dort häufigsten Vogelarten vorgearbeitet. Es wurden 6556 Seidenschwänze gezählt; vor zwölf Monaten waren es nur 96 Tiere. In Brandenburg wurden während der zweitägigen Zählaktion zwischen Elbe und Oder 1761 Vögel beobachtet. Damit landete diese Vogelart auf dem 17. Platz der Landesliste - Anfang 2012 war es noch Platz 53. In Sachsen belief sich ihre Zahl zuletzt auf 1034, das bedeutet den 20. Platz. Anders sah es vor einem Jahr aus, als 46 Seidenschwänze Platz 44 brachten.
In Baden-Württemberg konnten die Nabu-Mitarbeiter im Januar 447 Seidenschwänze bei der „Stunde der Wintervögel“ registrieren. Vor einem Jahr fanden sie dort nur 18 Exemplare dieser seltenen Art. Mit knapp 400 beobachteten Vögeln eroberten sich die Seidenschwänze in Mecklenburg-Vorpommern Rang 27. Vor zwölf Monaten schafften es die gezählten 43 Tiere nur auf Platz 44. In Schleswig-Holstein wurden zum Jahresbeginn 70 Seidenschwänze registriert, ein Jahr zuvor waren es nur sechs.
Für Torsten Langgemach von der Staatlichen Vogelschutzwarte Brandenburgs ist der verstärkte Anflug von Seidenschwänzen und anderen Vögeln aus dem Norden im Winter nicht ungewöhnlich. „Eine regelrechte Vogelinvasion wie in diesem Winter hat es allerdings zuletzt zwischen Elbe und Oder im Winter 2005/2006 gegeben.“
Der Nabu hat das Invasionsphänomen auch bei anderen Vögeln beobachtet. Dazu gehören Kraniche, Silberreiher, Birken- und Erlenzeisige, Kohlmeisen, Fichtenkreuzschnäbel sowie Bergfinken. Letztere können sogar in Schwärmen mit bis zu einer Million Tieren auftreten.