Politische Kriminalität „Hilferuf“ – Kommunalpolitiker wenden sich an Grünen-Spitze
Angriffe auf Politikerinnen und Politiker machten in den vergangenen Wahlkämpfen immer wieder Schlagzeilen. Kommunalpolitiker aus Thüringen berichten von Gewalt und Ängsten.

Berlin/Erfurt - Zwei Thüringer Grünen-Kommunalpolitiker haben sich mit einem Hilferuf wegen Hass und Hetze im ländlichen Raum an ihre Parteispitze gewandt. „Dieser Brief an euch ist ein verzweifelter Hilfeschrei, denn: Wir wissen nicht mehr weiter“, zitierte der „Spiegel“ aus dem Schreiben von Matthias Kaiser und Felix Kalbe aus Gotha. Der Grünen-Bundesvorsitzende Felix Banaszak sagte der Deutschen Presse-Agentur, die Schilderungen hätten ihn sehr bewegt, er nehme das sehr ernst.
In dem Schreiben, das nach Angaben des „Spiegel“ auf den 16. Juli datiert ist, berichten die beiden Politiker den Angaben nach darüber, dass sich immer mehr Mitglieder aus dem aktiven Parteileben zurückzögen. Es sei gefährlich geworden, Grünen-Mitglied im ländlichen Thüringen zu sein. In den Wahlkämpfen des vergangenen Jahres sei es normal gewesen, auf offener Straße als Grüner beleidigt oder angespuckt zu werden.
„Fast wöchentlich wurden Hassbotschaften an unsere Bürofenster geklebt. Sprüche wie "Euch Grüne hängen wir auf" waren alltäglich“, zitierte das Magazin aus dem Schreiben.
Ähnlicher Brief an Landesinnenminister
Kaiser, der für die Grünen im Kreistag Gotha sitzt, und Kalbe, Mitglied des Stadtrats von Gotha, hatten sich bereits in einem ähnlichen Brief an Landesinnenminister Georg Maier (SPD) gewandt. „Mit unseren Briefen wollten wir deutlich machen, wie ernst die Lage hier vor Ort in Gotha ist“, teilte Kalbe der dpa mit. Sie stehe stellvertretend für zahlreiche ländliche Regionen, wie sie in Thüringen, Sachsen, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt existierten.
Dem „Tagesspiegel“ sagte Kalbe, Gewalttaten in Thüringen nähmen seit Jahren nachweislich zu, vor allem gegen kommunalpolitisch aktive Menschen. Als Beispiel nannte er den Fall eines Parteimitglieds, bei dem am helllichten Tag eingebrochen worden sei. „Dabei wurden Mülltonnen angezündet. Der Brand ist auch auf die Fassade übergesprungen. Zum Glück war die Feuerwehr rechtzeitig da.“
Vor zwei Wochen sei ein anderes Mitglied, ein langjähriger Stadtrat und Kreistagsabgeordneter, auf offener Straße angegriffen worden. „Da flogen Sätze wie: "Du grüne Sau!". Dazu hat er Schläge auf den Brustkorb einstecken müssen.“
„Wir gelten ein Stück weit als vogelfrei“
Kaiser sagte der Zeitung, es sei völlig normalisiert, die Grünen zu beleidigen, zu beschimpfen oder körperlich anzugreifen. „Das reicht von der Sachbeschädigung von Plakaten und Büros bis eben zu solchen körperlichen Attacken mit Schlägen und Tritten sowie geworfenen Flaschen. Wir gelten ein Stück weit als vogelfrei – und das als Ehrenamtliche.“
Gerade wenn er mit seiner kleinen Tochter unterwegs sei, überlege er sich, wie und wo er sich im öffentlichen Raum bewege, sagte Kaiser. „Ich habe mir einen Schulterblick angewöhnt. Die Vorstellung, mit ihr in einen Konflikt verwickelt zu werden, macht mir Sorgen. Selbst, wenn es nur verbale Anfeindungen sind.“ Die Grünen seien besonders im Fokus, Gewalt betreffe aber durchaus auch Mitglieder der SPD und der Linken, teilweise auch der CDU.
In den vergangenen Wahlkämpfen hatten verschiedene Fälle von Gewalt gegen Politikerinnen und Politiker für Aufsehen gesorgt. Im Europawahlkampf wurde etwa der SPD-Wahlkämpfer Matthias Ecke in Dresden krankenhausreif geschlagen. Im Bundestagswahlkampf war der CDU-Politiker Roderich Kiesewetter in Baden-Württemberg angegangen und leicht verletzt worden.
Banaszak: Körperliche und mentale Belastung muss alarmieren
Kalbe sagte der Deutschen Presse-Agentur, es brauche dringend politische Rückendeckung. „Der Thüringer Innenminister Georg Maier muss jetzt handeln und dafür sorgen, dass kommunale Mandate ohne Angst ausgeübt werden können.“ Gleichzeitig müssten die Grünen als Partei selbstkritisch prüfen, wie sie in ländlichen Regionen weiter politisch aktiv blieben.
Banaszak teilte zum Brief an die Grünen-Spitze mit, die körperliche und mentale Belastung, die die beiden schilderten, sei Ausdruck einer politischen Realität, die alle Demokratinnen alarmieren müsse. „Denn wo Ehrenamtliche verstummen, gerät der gesellschaftliche Zusammenhalt ins Wanken.“ Die Grünen hätten bereits ein Bündel an Maßnahmen beschlossen, um die Strukturen der Partei im Osten zu stärken. Das Ziel sei auch mehr Präsenz und Unterstützung vor Ort.