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Gourmet-Küche Gourmet-Küche: Überraschen und provozieren

18.06.2010, 15:15

In diesen Tagen veröffentlichen Sie ein Kochbuch mit sage und schreibe 400 Seiten - ohne Rezepte. Ist das jetzt genial oder verrückt?

Wissler: Alles, was wir im Bensberger Resuarant "Vendôme" machen liegt außerhalb des Normalen - dazu gehört auch ein unorthodoxes Kochbuch. Wir wollten keine Stereotypen, die in Kochbüchern immer wieder auftreten.

Aber wie funktioniert ein Kochbuch ohne Rezepte?

Wissler: Das Buch enthält 120 Gerichte, aber weil jedes Gericht aus mehreren Komponenten besteht, sind es am Ende 500 Rezepte geworden. Drei-Sterne-Rezepte! Es ist unmöglich, so etwas auf Papier zu bringen. Aber zum Glück sind wir im Internetzeitalter angekommen. Jeder Käufer erhält ein Passwort zu einer Webseite, auf der er nicht nur Rezepte, sondern auch zu allen Gerichten optische Anleitungen findet. So ist das Buch vom Anspruch ein Kunstband, die Internetseite gibt den Köchen das nötige Handwerkszeug.

Drei-Sterne-Küche klingt kompliziert. Ist das Buch auch etwas für den interessierten Laien oder die ambitionierte Hausfrau?

Wissler: Auf diese Frage kann es nur eine Antwort geben: nein! Man kann nicht Samstagmorgen auf den Markt gehen, mit dem Rezept in der Hand, die Zutaten einkaufen und dann loslegen. Das geht einfach nicht. Sonst würden zwölf Köche, die viele, viele Stunden jeden Tag in meinem Restaurant arbeiten, irgendwas falsch machen.

Alltagsküche und drei Sterne: Das sind zwei Welten, die funktionieren nicht miteinander. Klipp und klar: es ist ein Buch für Köche, für Freunde, für Gäste. Für Menschen, die unser Menü gegessen haben und sich erinnern wollen. Die etwas über die Zusammenhänge, die Philosophie erfahren wollen.

Warum haben Sie gerade jetzt dieses Buch gemacht? Wollten Sie ihre vergängliche Kunst verewigen?

Wissler: Das war auf jeden Fall ein Motiv. Das Buch ist ganz konkret eine Dokumentation der Menüfolgen des Jahres 2009, jenem Jahr, in dem meine Küche sehr große Entwicklungssprünge gemacht hat. In diesem Jahr haben wir im "Vendôme" auch unsere Philosophie geändert. Wir sind mit einer Menüfolge auf den Markt gegangen, bei der die Gäste zwischen zehn und 23 Gängen wählen können, die alle von der Größe her aufeinander abgestimmt sind, die einen Spannungsbogen, eine Dramaturgie haben.

Aber die Webseite wird ständig aktualisiert, warum?

Wissler: Nehmen Sie zum Beispiel das Gericht "Gemüsekrokant Blätterwald", das in der Zubereitung sehr komplex ist. Die Karotte muss man schmecken können, aber sie muss knusprig sein, das erreiche ich nicht mit blanchieren oder grillen. Wir haben dann eine Methode entwickelt, bei der wir Karotten und anderes Gemüse gefriertrocknen, um es dann pulverisiert zu knusprigen Blättern zu formen. Diese Rezeptur hat sich in acht Monaten dramatisch verbessert. Hier greift die Idee der dynamischen Webseite. Die Besitzer des Buches sind immer auf dem neuesten Stand der Rezepturen. Das ist zeitgemäß.

Haben Sie keine Angst, mit einem solchen Buch Ihre Kunst zu entzaubern?

Wissler: Das Buch ist eine schonungslose Dokumentation und beinhaltet eine nie da gewesene Ehrlichkeit in den Rezepten. Ich gebe mein ganzes Wissen preis! Dafür ist das Buch auch mit 129 Euro relativ teuer.

Worin liegt denn eigentlich der Sprung, den Sie im Jahr 2009 gemacht haben?

Wissler: Der Sprung liegt innerhalb der Menüfolgen und in der Entwicklung von Menü zu Menü, wo wir immer wieder die Erkenntnisse des vergangenen Jahres eingearbeitet haben. Meine Arbeit zielt auf eine immer bessere Verknüpfung von Klassik und Moderne, verwirklicht mit meinem ureigenen Profil. Es ging mir in erster Linie darum, dass man mit Gerichten etwas bewegen kann.

Und das bedeutet?

Wissler: Heute muss ein Besuch in einem Spitzen-Restaurant mehr sein als nur ein Menü zu konsumieren und danach satt nach Hause zu gehen. Der Anspruch ist, ein Erlebnis zu haben. Wenn Sie den Mut besitzen, einem Gast 23 Gänge zu servieren, dann darf das nicht langweilig werden. Immer nur einen Teller absetzen, den der Gast andächtig ansieht und seinen Inhalt aufisst - das reicht nicht.

Der Gast will Spannung, er will unterhalten werden?

Wissler: Das fängt bei der Speisekarte an, da haben wir eine ganz eigenen Stil entwickelt. Auf alles, was zu poetisch wirken könnte, wird verzichtet. Wir wollen den Gast überraschen, auch provozieren. Wir servieren ihm Aal mit Himbeerstreuseln und Rosenkohl. Das geht nicht? Doch! Es geht ganz wunderbar.

Und im Mittelpunkt steht das Produkt...

Wissler: Genau, in der Inszenierung geht es oft um das Produkt, welches das wesentliche Geschmackserlebnis verursacht. Aber manchmal soll auch einfach Neugierde geweckt werden, zum Beispiel bei den Desserts. Ein Gericht, das Schaumkuss heißt, das verspricht etwas Luftiges, etwas Ästhetisches, etwas Sinnliches. Wohlverknüpft mit einer Menüfolge, hinterlässt das einen Gesamteindruck. Klar, in erster Linie geht es um den Geschmack. Aber es gibt so viele Instrumente, die eine wichtige Rolle spielen. Auch das Auge schickt einen Geschmacks-Vorboten an das Gehirn - mit diesen Erwartungen können wir spielen.

Mich hat noch etwas neugierig gemacht. Sie sind in der Weltrangliste der Restaurants auf einen beachtlichen Platz 22 geklettert, noch mal drei Plätze höher als im vergangenen Jahr...

Wissler: Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen... (lacht)

Es geht ja immerhin um die besten Restaurants der Welt! Kein deutscher Koch ist dort besser platziert, Sie sind Mitte vierzig und haben hierzulande bereits alles erreicht...

Wissler: Alles erreicht und doch nichts! Das kann man ganz einfach so stehen lassen. Und warum? Weil wir eine Entwicklung in der Welt haben, die uns zwingt, über unsere Grenzen hinauszugehen, sonst reicht es einfach nicht. Vor zehn Jahren gab es in Deutschland drei oder vier Drei- Sterne-Restaurants. Heute gibt es neun, die Zahl hat sich verdoppelt. Aber die Kundschaft hat sich nicht verdoppelt. Sie hat stagniert - wenn überhaupt. Wir müssen also auch international Anerkennung erreichen, allerdings ohne die Gäste zu verlieren, die uns im eigenen Land die Treue halten. Sonst sind wir nicht zukunftsfähig. Die deutsche Spitzenküche hat nicht das internationale Standing, das ihr eigentlich gebührt. Das ist so. Daran müssen wir arbeiten.

Ihr Buch ist in wesentlichen Teilen im Internet verfügbar und es erscheint zweisprachig auf Deutsch und Englisch. Ist es Ihr Werkzeug auf dem Weg zur internationalen Spitze?

Wissler: Auf jeden Fall. Neulich rief eine New Yorker Buchhandlung an, die wollten mein Buch haben. Ich weiß gar nicht, woher die das wissen, es muss sich herumgesprochen haben. Aber es zeigt mir, dass es der richtige Weg ist. Es geht um Aufmerksamkeit, um internationale Aufmerksamkeit. Deshalb muss mein Buch zweisprachig sein.

Um eine internationale "Marke Wissler" zu etablieren?

Wissler: Wenn ein Koch ungefähr 35 ist, dann entscheidet sich, wie sein Erfolg weiter geht, ob er Profil gewinnt, Ecken und Kanten hat.

...eine eigene Handschrift?

Wissler: Ja. Mit 35 hat man Erfahrungen gesammelt, viel um die Ohren bekommen, man ist hingefallen und musste aufstehen, das gehört auch dazu. Mit Mitte vierzig zeigt sich, ob man auch die Niederlagen genutzt hat. Ob man das eigene Charisma wirklich der Welt vermitteln kann.

Könnten Sie sich vorstellen, dass es in fünf Jahren in Paris und London und New York Wissler- Restaurants gibt?

Wissler: Das könnte ich mir vorstellen! Klar, das ist jetzt fiktiv, aber über eine Marke könnte so etwas funktionieren, über Restaurants, die genau nach meiner Anweisung an verschiedenen Orten geführt werden. Ich werde immer in Bergisch Gladbach meine Basis haben, aber es könnte Satelliten in aller Welt geben. Wir Spitzenköche in Deutschland müssen uns damit befassen, wir brauchen endlich internationale Anerkennung. Auch um unsere Betriebe am Leben zu erhalten.

Kann es denn sein, dass man sich als Koch in einer Weise weiter entwickelt, dass die Gäste nicht mehr mitkommen, die Kompositionen nicht mehr verstehen?

Wissler: Ich weiß sehr gut, was Sie meinen. Je eigener Sie werden, desto weniger Menschen können es nachvollziehen. Aber man darf sich davon nicht beirren lassen, man muss das durchziehen. Hin und wieder muss man zurück rudern. Aber grundsätzlich muss man an sich glauben. Es kann ja auch sein, dass Sie das Richtige machen, aber am falschen Ort.

Sie sind sicher für viele Köche Vorbild. Haben Sie selbst noch Vorbilder?

Wissler: Ich habe mich nie zu stark an Vorbildern orientiert. Menschen, die sich sehr stark an Vorbildern orientieren, haben ja oft ein Problem, sich von ihren großen Meistern zu lösen. Wenn sie dann Charisma und eine eigene Linie zeigen sollen, können sie das oft nicht. Das ist bei mir nie der Fall gewesen.

Ich kam als Underdog um die Ecke und niemand wusste woher. Mein Stil hat sich aus mir selbst heraus entwickelt. Ich habe das nötige Vertrauen bekommen und das immer zum richtigen Zeitpunkt. Ich bin im Sternzeichen Steinbock. Beharrlichkeit soll angeblich eine Tugend von Steinböcken sein. Ich weiß es nicht. Ich bin halt so, wie ich bin.