Gesellschaft Gesellschaft: Wie funktioniert Sex?

Chemnitz/dpa. - Dort erfuhr der vom Westen abgeschottete pubertierendeJugendliche Basiswissen über alles, was mit Sex zusammengehört.«Fortgeschrittene» lernten dort, wie Sex erfüllender gestaltet werdenkann. Das Standard-Nachschlagewerk erschien in der DDR von 1970 biskurz nach der Wende in 18 Auflagen von mehr als einer MillionExemplaren. Dazu kamen eine halbe Million in sieben weiteren Ländern,darunter in der Bundesrepublik.
Der in Sachsen lebende Psychotherapeut Schnabl hat wie keinanderer zuvor das Sexualleben der Ostdeutschen untersucht. «Es gibtso viele Sexualitäten, wie es Menschen gibt», sagt der Mann, der denSpitznamen «Kolle des Ostens» erhielt. Oswalt Kolle hatte in den60er Jahren im Westen mit Schriften und Filmen über Sex für Aufsehengesorgt und war dort als «Aufklärer der Nation» bezeichnet worden.
Als Leiter einer Ehe- und Sexualberatungsstelle im damaligen Karl-Marx-Stadt - heute Chemnitz - war Schnabl über Jahre im Einsatz. «Auserster Hand erfuhr ich bei Gesprächen mit Patienten, was hintergeschlossenen Schlafzimmertüren zwischen Ahlbeck und Zinnwald geschahoder nicht geschah», erzählt er. Die meisten Männer suchten Rat wegenPotenzstörungen, bei Frauen waren es häufiger Orgasmusprobleme. Aberauch partnerschaftliche Zwistigkeiten oder gleichgeschlechtlicheBeziehungen wurden thematisiert.
Diese Beratungsstellen waren Ende der 60er Jahre in der DDR miteinem neuen Familiengesetz entstanden. «Zunächst ordnete man sie denAbteilungen Inneres zu», sagt Schnabl. Dort wurden aber auchAusreise-Anträge behandelt. «Das Interesse, bei Sexproblemen dieBehörde aufzusuchen, hielt sich verständlicherweise in Grenzen»,berichtet er. Erst als die Beratungsstellen zum Gesundheitswesenwechselten, kamen vermehrt Rat suchende.
Für seine Habilitation stellte Schnabl in anonymen FragebogenFragen zu Sex und Partnerschaft. «Ich hatte aber vermieden, dafüreine Genehmigung zu beantragen», schildert er, wie die DDR-Bürokratiedann das «Ausspähen der intimen Sphäre ihrer Bürger» befürchtete. Ermusste die Untersuchung beendeten. «Niemand hatte mir aber gesagt,dass ich die bereits ausgewerteten mehrere tausend Fragebogenvernichten sollte», erzählt er schmunzelnd. «Und der Report kam alsBuch durch die Zensur.»
«DDR-Bürger waren freizügiger als die in anderen sozialistischenLändern», erinnert sich Schnabl, der weitere Werke wie«Intimverhalten - Sexualstörungen - Persönlichkeit» oder «Der LiebeLust - der Liebe Leid» geschrieben hat. Auch im DDR-Fernsehen und imRadio war der Autor in Ratgebersendungen eine Koryphäe. Immer ganzGentleman in hellem Anzug strahlte er bei Zuschauern und PatientenSeriosität aus, so dass sie ihm das Intimste anvertrauten. «Ichwollte aber nie Patentrezepte, sondern nur Denkanstöße geben», sagtSchnabl, der verständlich und einfühlsam über Sex und Co. schrieb.
Das populäre Werk «Mann und Frau intim» musste anfangs ohne Fotosauskommen. Ein paar Strichzeichnungen waren die einzige Illustration.«Ich regte mit meiner Sprache die Phantasie der Leser an», erzählter. Mancher Rat wie Sex in zwei über Eck stehenden Betten ist nichtoptimal, klingt vielleicht betulich. Andererseits setzte sich Schnablgegen die Diskriminierung von Homosexuellen ein und warb umVerständnis für diese sexuelle Orientierung. Schnabls Werke waren inder DDR Bestseller. «Im SED-Politbüro dachte man vielleicht: wenn dieMenschen miteinander und im Bett glücklich sind, dann kommen sienicht auf dumme politische Gedanken.»
Schnabl winkt immer ab, wenn er nach Unterschieden inPartnerschaftsverhalten und Sex bei Ost- und West-Deutschen gefragtwird. «Es gab keine wesentlichen», betont er amüsiert. «Seien Siedoch froh, dass die Einheit auf diesem Gebiet schon vor dem Mauerfallvollzogen war.»
