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European Song Contest European Song Contest: Ann-Sophie die Leistungsturnerin des ESC

Von Elmar Kraushaar 18.05.2015, 14:50

Sie will alles. Sie will es unbedingt. Den Sieg, den Erfolg, die Karriere. Es ist Sonntagmittag in Wien, Ann Sophie hat gerade auf der Bühne der Stadthalle ihre erste Probe für den Eurovision Song Contest hinter sich gebracht und stellt sich nun den Fragen der Journalisten. Der Raum ist gut gefüllt, das Englisch der Sängerin perfekt, sie fühlt sich pudelwohl. Die Fragen der Fans und Journalisten sind belanglos, Ann Sophies Antworten routiniert, sie erzählt das, was sie schon seit Wochen öffentlich erzählt: „Musik ist für mich alles!“, „Mein Song ist ganz großartig!“, „Ich vertraue auf mein Schicksal“.

Coole Eleganz strahlt sie aus im schwarzen Hosenanzug, die Haare hochgesteckt. So gar nicht cool, munter vielmehr, lebhaft wirkt sie, wenn sie spricht, ein helles Lachen zwischendurch, immer den Fragenden zugewandt. Seht her, ich bin für euch da, will sie signalisieren, und ich will hier nicht mehr weg. Als die Moderatorin die Pressekonferenz beenden will, ist Ann Sophie dazu noch nicht bereit. „Black Smoke“, sagt sie, „ich will doch noch singen!“ Ein Gitarrist kommt hinzu, sie legt los, schmettert ihren Wettbewerbsbeitrag in den Raum. Das hat Kraft, das überzeugt, es gibt viel Beifall.

Stolz auf Pfennigabsätzen

Für eine Überraschung sorgt sie zuvor auf der Bühne. Wie wird sie ihren Auftritt gestalten? Was zieht sie an? Die Bühne ist dunkel, die Künstlerin wendet sich mit dem Rücken zur Kamera, die Musik beginnt, der Gesang, die Scheinwerfer sind da, sie trägt einen Jumpsuit in Schwarz, in der Taille gehalten von einem goldenen Gürtel, der Rücken frei. Ann Sophie nutzt den gleichen Trick, mit dem sie schon bei ihrem ersten Auftritt im Februar beim Clubkonzert Furore machte, nur war der Hosenanzug damals knallrot. Wieder setzt sie ganz auf ihre Stimme und die erotische Ausstrahlung ihres Hinterteils. Sie wirft den Kopf zur Seite, blitzt in die Kamera, ein Flirt, die Einladung zur Annäherung. Dazu schwarzer Rauch auf der Leinwand im Hintergrund. Sie lässt ihre Hüften kreisen, geht gekonnt in die Knie und steht mit einer kurzen Drehung wieder sicher und stolz auf ihren hohen Pfennigabsätzen. Hunderte Journalisten und Fans verfolgen auf einer Leinwand im Pressezentrum den Auftritt. Viel Beifall, auch hier, keine Buhs, Ann Sophie betört.

Dass sie das kann, hat sie auch in der vergangenen Woche schon in der österreichischen Botschaft in Berlin bewiesen. Hier ist sie geladen zu einem sogenannten Verabschiedungsempfang vor Vertretern der Medien, Kultur und Diplomatie. Sebastian Kurz, der 28-jährige Außenminister Österreichs, hat alle seine Auslandsvertretungen in den europäischen Hauptstädten aufgefordert, die jeweiligen ESC-Teilnehmer angemessen nach Wien zu verabschieden, so viel freundliche Aufmerksamkeit für sein Land lässt sich nicht alle Tage inszenieren. Im Zuge dieser diplomatischen Offensive hat es auch Ann Sophie in das gediegene Ambiente der Botschaft geschafft, für zwei Sunden dreht sich hier alles nur um sie.

Lächeln im Gesicht

Da steht sie nun vor einem altgewordenen Wandteppich, nebendran das eine oder andere Porträt in Öl, umgeben von Truhen, einem Schreibsekretär und einem schweren Schrank. Rechts von ihr hat sich Botschafter Nikolaus Marschik postiert, zur Linken der Strudelkoch des Hauses. Sie hält mittendrin einen Teller in der Hand, zwei Apfelstrudel darauf. „Einmal die Augen aufreißen – das ist der Hammer!“, mehr als zwanzig Fotografen und TV-Kameras drängen sich vor den Dreien, und alle wollen doch nur was von Ann Sophie. Und sie weiß, was verlangt wird. Das Lächeln im Gesicht sitzt, Pose nach links, Pose nach rechts, mal ein kokettes Blinzeln, mal ein Lacher mit großem Mund. Die Sängerin trägt auch hier einen schwarzen Hosenanzug, der V-Ausschnitt ist bestickt mit goldenen und silbernen Applikationen. Ihr Haar ist streng zurückgekämmt, von einem Knoten gehalten im Nacken.

Die 24-jährige Hamburgerin duzt jeden hier, den Botschafter, die Fotografen, die Journalisten. Sie weiß, dass sie Freude zeigen muss, als ihr ein Vertreter der nationalen Tourismuswerbung einen roten Österreich-Rucksack überreicht, darin ein Fläschchen Sekt, eine Klassik-CD, ein Stück Seife, ein papierenes Winkelement in den Nationalfarben Rot-Weiß-Rot und eine süße Waffel, gefüllt mit Haselnusscreme. Sie beherrscht die Rituale und Floskeln der Selbstvermarktung, als habe sie ihr Leben lang nichts anderes getan.

Der Auftritt in der Botschaft ist ihr vorerst letzter vor heimischen Kameras und Journalisten, der spektakuläre Höhepunkt bleibt Wien vorbehalten; am Sonnabend findet dort das ESC-Finale statt. Noch einmal singt sie auf kleiner Bühne und begleitet von vier Backgroundsängerinnen ihr „Black Smoke“, souverän und routiniert, um anschließend ins Foyer der Botschaft zu wechseln, weil dort die Akustik besser ist für ihren A-cappella-Gesang. „Lie To Me“ heißt der Song, erst kürzlich veröffentlicht auf ihrem Album „Silver Into Gold“, hoch emotional und dramatisch.

"Das ist für mich wie atmen"

„Ich will für Menschen singen“, erzählt sie anschließend im Zweiergespräch an einem viel zu großen Konferenztisch im Sitzungssaal der Botschaft. „Ich will aus meinem Herzen singen, die Herzen der Menschen erreichen.“ Und fährt fort: „Viele Menschen haben im Alltag Angst vor Gefühlen. Ich will ihnen zeigen, dass man diese Angst nicht haben muss. Die Musik ist ein Ventil, das es einem erlaubt zu fühlen, was man fühlen will.“

Noch nie zuvor ist eine Teilnehmerin für den alljährlich stattfindenden Musikwettbewerb auf eine solche PR-Ochsentour geschickt worden wie Ann Sophie. Seit der spektakulären Entscheidung bei der deutschen Vorauswahl Anfang März ist sie unterwegs. Damals zog der eigentliche Sieger, Andreas Kümmert, für sich die Reißleine und sagte ab, und sie, die Zweitplatzierte, war plötzlich die Kandidatin für Wien. Jetzt war sie an der Reihe, reiste zu Kurzauftritten nach London und Amsterdam, verpasste keine TV-Show und fast keine Talkrunde, war auf Radio-Sendertour und lud einen Videoreporter sogar zu sich nach Hause ein. „Ich liebe das so sehr, das ist genau das Leben, das ich führen will. Ich könnte noch mehr machen, ich lebe dafür.“ Keine Schwäche, kein Wunsch nach Ruhe, keine Pause. Selbst auf Nachfrage, Ann Sophie bleibt dabei: „Herumreisen, viele Leute kennenlernen – ich liebe das, das ist für mich wie atmen.“

So, als wäre Stress ein Fremdwort für sie. Den kennt sie, die mit Nachnamen Dürmeyer heißt, schon seit ihrer Schulzeit. Ihr Wochenprogramm damals war mörderisch: „Montags Leistungsturnen, dienstags Reiten, mittwochs Leistungsturnen, donnerstags Ballett, Steppen und Jazztanz, freitags Leistungsturnen, samstags und sonntags Wettkämpfe. Und zwischendurch habe ich noch Cello und Klavier gelernt und musste zur Schule gehen.“ Dazu ein unruhiges Familienleben. „Geboren in London, aufgewachsen in Hamburg, die Eltern geschieden, umgezogen, umgezogen, umgezogen, mein Bruder war dann weg – das war alles sehr viel für ein Kind. Ich war lange Zeit nicht glücklich.“ Ihrer Familie gehört eine angesehene Hamburger Druckerei, die heute in dritter Generation von Ann Sophies Bruder Pascal Dürmeyer geführt wird.

Schützendes Korsett der Schulroutine

Mit vierzehn dann entdeckt Ann Sophie ihre Stimme für sich und die Musik: „Da wusste ich: Das ist es!“ Sie erkennt die Stärke ihres Talents, gewinnt neues Selbstvertrauen und muss anderen gegenüber nicht mehr ständig neu beweisen, wie nett sie ist und überhaupt nicht arrogant. In der Musik hat sie jetzt ihre Heimat gefunden. „Über das Singen und die Musik habe ich Zugang gefunden zu meiner Seele, das war mein kleines Zuhause.“ Nach dem Abitur will sie mehr, die Musik und der Gesang sollen ihre Zukunft sein. Ihre Eltern finanzieren ihr einen zweijährigen Aufenthalt in New York, ein Studium an der renommierten Lee-Strasberg-Schauspielschule inklusive. Sie nimmt alles mit, was die Stadt ihr bietet, tritt als Sängerin auf in kleinen Clubs, schreibt sich selber Songs, produziert eine erste CD. Und dann ist mit einem Mal alles wieder vorbei.

Mit dem Ende der Ausbildung kommt ihr das schützende Korsett der Schulroutine abhanden, sie befürchtet abzustürzen in der Stadt, in der sie doch eigentlich für immer bleiben wollte. „Ich hatte total den Halt verloren und auch ein bisschen mich selbst.“ Bis dahin war sie unermüdlich immer nur gerannt und hatte nie nach links und rechts geschaut. Jetzt, in der Krise, muss sie feststellen, dass ihr innerer Halt immer nur abhing von den äußeren Umständen. „Ich habe gemerkt, dass das nicht gut ist. Halt muss man auch in sich finden.“ Heute kann sie sagen, dass diese Erfahrung sehr wichtig war für sie, sie hat gelernt, den Weg als Teil des Ziels zu sehen. Ann Sophie verlässt New York, die Hürden hier beruflich weiterzukommen sind ihr zu hoch. Sie ist froh, wieder zurück zu sein in Hamburg, bei ihrer Familie, den alten Freunden. „Hier kann ich mich in Ruhe an alles rantasten und mich ausprobieren.“

Immun gegen Ratschläge

Rantasten und ausprobieren, aber in welchem Tempo! So als müsse sie in vier Wochen das erreichen, wofür andere Jahre brauchen. Innerhalb von fünf Tagen hat sie ihre CD aufgenommen, sie nennt das zielstrebig, Menschen um sie herum sprechen hinter vorgehaltener Hand von ihrem ungebremsten Ehrgeiz. Sie ist immun gegen die Ratschläge anderer, sie weiß genau, welche Songs zu ihr passen, was sie tragen muss auf der Bühne, welche Frisur, welche Schuhe.

Was macht sie nach dem 23. Mai, nach dem Finalabend in Wien? Wenn vielleicht kein Sieg ihre Mühen krönt? Wenn auf einmal alles still wird um sie herum? Sie habe keine Angst davor, sagt Ann Sophie. Sie werde vielleicht eine Clubtour machen, ihre CD präsentieren, ihr Kinderbuch veröffentlichen, das sie vor einiger Zeit geschrieben hat. „Ich bin kein ängstlicher Mensch“, sagt sie, „Man tendiert oft dazu, das Leben zu ernst zu nehmen, aber das muss man gar nicht.“

Als sie am Sonntagabend vor dem Wiener Rathaus aus dem Bus der deutschen Delegation steigt und den roten Teppich betritt, der sie zur offiziellen Eröffnungsfeier beim Bürgermeister führt, legt sie sofort wieder los mit „Black Smoke!“ Laut und energiegeladen. Nein, sie will nicht mehr weg hier. Die Bühne ist ihr Zuhause, die Musik, der Gesang.