Entscheidung Entscheidung: Was tun, wenn das ungeborene Kind behindert ist?
Marja lacht. Marja juchzt. Marja läuft. Ganz ohne Hilfe, die Arme weit vorgestreckt. Ein Wunder nennt Sandra Schulz einen Moment wie diesen. Ein Wunder, auf das sie vor zweieinhalb Jahren kaum zu hoffen gewagt hätte. Marja kam als Frühchen zur Welt, mit Down-Syndrom, Wasserkopf und einem angeborenen Herzfehler. Sie hat zwei Herz- und zwei Kopfoperationen hinter sich. In ihrem Schädel steckt ein Shunt, eine künstliche Ableitung für überschüssiges Hirnwasser. Ihre Zunge ist groß und ungelenk, ihr Lächeln breit wie ein Scheunentor.
Sandra Schulz: Ein Leben ohne Marja kann sie sich nicht mehr vorstellen
Sandra Schulz, 41, Redakteurin beim „Spiegel“, hat ein Buch darüber geschrieben, warum sie dieses Kind zur Welt brachte. Und warum sie sich ein Leben ohne Marja nicht mehr vorstellen kann. Das Buch heißt „Das ganze Kind hat so viele Fehler“ und basiert auf Tagebuchnotizen, die in den dunkelsten Wochen von Sandra Schulz' Leben entstanden: zwischen dem 19. November 2014, als eine Ärztin sie über einen möglichen Gendefekt des Kindes informierte, und Marjas Geburt am 10. März 2015. „Ich möchte Eltern, die ein behindertes Kind erwarten, zeigen, dass sich alles zum Guten wenden kann“, sagt sie. „Prognosen können eintreten, müssen aber nicht. Auch wenn sich das anhört wie eine dieser Sonntagsreden.“
Marja: Ein absolutes Wunschkind
Marja tapst ein letztes Mal auf dünnen Beinchen am Tisch vorbei, ehe ihr Vater sie in einen Fahrradanhänger setzt und mit ihr davonfährt. „Den Anhänger hat er ihr zum ersten Geburtstag geschenkt. Da konnte sie noch gar nicht sitzen“, sagt Sandra Schulz. Wir haben uns in einem Bistro irgendwo im Westen Deutschlands getroffen - in einer großen Stadt. Ihr Name tut nichts zur Sache. Auch der von Marja ist ein anderer. Sandra Schulz möchte nicht, dass ihre Tochter erkannt wird - obwohl deren Geschichte für etwas stehe, „das uns alle angeht“.
Sandra Schulz: Mit 39 Jahren wird sie zum ersten Mal schwanger
Sandra Schulz ist 39, als sie mit ihrem ersten Kind schwanger wird. Frisch verheiratet mit Christoph, dem „Seeräuber“ mit den langen dunklen Haaren und dem silbernen Ring im Ohr. Die Tochter, sagt sie, sei ein „absolutes Wunschkind“ gewesen, geliebt, seit sich beim Schwangerschaftstest zwei Striche auf dem Teststreifen zeigten. In der 13. Woche lässt Sandra Schulz bei einer Fachärztin für Humangenetik einen Bluttest machen. Freiwillig. Christoph und sie wollen ausschließen, was ohnehin kaum denkbar scheint: dass ihr ungeborenes Kind nicht gesund sein könnte. 1 : 109 beträgt für eine 39-Jährige statistisch gesehen das Risiko, ein Kind mit Trisomie 21, mit dem Down-Syndrom zu bekommen. Bei anderen Gendefekten ist das Risiko etwas geringer.
Sandra Schulz: Was Wissen bedeutet
„Ich war nie der Typ für Nicht-Wissen“, sagt Sandra Schulz. „Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass ich tatsächlich die ,Eins’ sein könnte. Ich hatte viel größere Angst vor einer Fehlgeburt als vor einer Chromosomenstörung.“ Und doch: Sandra Schulz ist die „Eins“; die eine von 109 Frauen, die es statistisch gesehen treffen kann. Am 19. November 2014 informiert die Humangenetikerin sie telefonisch, dass das Ergebnis des Bluttests nicht „komplett unauffällig“ sei. Das Kind werde aller Wahrscheinlichkeit nach das Down-Syndrom haben.
Sandra Schulz: „Erschlagen von einer Zukunft“
Sandra Schulz fühlt sich nach der Diagnose „erschlagen von einer Zukunft“, die sie nicht will. „Man geht zu einem Test, um etwas auszuschließen - und kehrt taumelnd zurück.“ Weitere Arztbesuche, eine zweite Blut-, eine Fruchtwasseruntersuchung folgen. Sie bestätigen das Ergebnis des ersten Bluttests. Sandra Schulz' Verunsicherung wächst. Soll sie abtreiben oder das Kind zur Welt bringen? Bei der Diagnose Down-Syndrom wäre es kein Problem, eine „medizinische Indikation“ für einen Abbruch auch nach der zwölften Schwangerschaftswoche zu bekommen. „Man unterschätzt, was Wissen bedeutet“, sagt sie heute. „Ich zumindest habe es unterschätzt. Plötzlich ist man in einer existenziellen Not, die man sich vorher nicht vorstellen kann.“
„Mein eigenes Kind ist mir fremd geworden“, notiert sie am 29. November in ihr Tagebuch. „Sie wird aussehen wie andere Behinderte. Sie wird nicht meine Augen haben. Ich werde ihr nicht meine Büchersammlung vererben. Wir werden nicht über Weltpolitik reden.“ Am 8. Dezember, nach einem Besuch bei einer Psychologin, schreibt sie: „Ich trauere um das Kind, das ich nie haben werde.“ Und: „Mag sein, dass man mit behinderten Kindern ganz bewundernswerte, tiefsinnige Menschen kennenlernt. Aber ich fühle mich zwangseingemeindet. Ich habe nicht darum gebeten, zur Community der Betroffenen und Edlen zu gehören. Ich brauche kein behindertes Kind, das mich adelt.“
Sandra Schulz: „Die Frau, die ich damals war, hat nur noch wenig mit der zu tun, die ich heute bin“
Es sind Sätze voller Bitterkeit. Sätze, mit denen sie sich heute nicht mehr identifizieren kann und die dennoch im Buch geblieben sind - weil sie zu ihrer Geschichte gehören. „Die Frau, die ich damals war, hat nur noch wenig mit der zu tun, die ich heute bin“, sagt sie. „Ich spürte plötzlich diese große Entfremdung zu meinem eigenen Kind, und damit musste ich erst einmal klar kommen. Aber ich glaube nicht, dass ich die Ausnahme war mit all meiner Enttäuschung und meiner Wut. Man muss nach einer solchen Diagnose Abschied nehmen von dem Kind, das man sich erträumt hat, und das tut weh.“ Doch irgendwann finde man zurück zu der Liebe, die man einmal für das Ungeborene empfunden habe. „Auch wenn dieses Kind vielleicht ganz anders ist, als man es sich anfangs vorgestellt hat.“
Sandra Schulz braucht lange, ehe sie sich ganz für Marja entscheiden konnte
Sandra Schulz braucht lange, ehe sie sich vorbehaltlos für ihre Tochter, für Marja entscheiden kann. Auch wenn sie heute sagt: „Tief im Inneren habe ich immer gespürt, dass ich mein Kind nicht hergeben kann.“ Einen ersten Termin für einen Schwangerschaftsabbruch am 11. Dezember sagt sie kurzfristig ab. Eine „Art Notausgang“ nennt sie den Abbruchtermin heute, vereinbart, um ihn nicht wahrzunehmen.
„Eine Eskalation der Diagnosen“
Der zweite Termin sechzehn Tage später ist „ein echter“. Dazwischen liegt „eine Eskalation der Diagnosen“. Am 16. Dezember wird bei Marja ein kleines Loch im Herzen festgestellt. Am 18., nach einer weiteren Untersuchung, ist daraus ein „kompletter atrioventrikulärer Septumdefekt“, ein „eher schwerer komplexer Herzfehler“ geworden. Der Säugling wird schon bald nach der Geburt operiert werden müssen. Am 22. Dezember wird bei einer Routineuntersuchung zusätzlich ein Hydrozephalus diagnostiziert: ein Wasserkopf. „Dort, wo Gehirn sein sollte, ist Flüssigkeit statt Hirnmasse“, klärt ein Arzt die Eltern auf. Die Ursachen dafür seien unbekannt, die Folgen für das Gehirn des Fötus nicht absehbar. „Das ist Schrott“, befindet ein anderer, als er die Ultraschallbilder sieht.
„Bisher hatte ich gefragt, was es für mein Leben bedeutet, ein behindertes Kind zu bekommen“, sagt Sandra Schulz. „Werde ich noch in meinem Beruf arbeiten können? Wer von uns wird zurückstecken müssen? Jetzt war die Frage, was dieses Bündel an Diagnosen für unser Kind bedeutet. Alles andere war unwichtig. Wie wird sein Leben aussehen? Wie schwer wird die Behinderung sein? Wird Marja Schmerzen haben, viele Operationen durchstehen müssen? Abhängig sein von medizinischen Apparaten? Dürfen wir ihr dieses Leben zumuten?“
Marjas Todesurteil
Einen Tag vor Heiligabend unterschreibt Sandra Schulz die „Schriftliche Bestätigung der Schwangeren über die Beratung und Vermittlung bei dringendem Hinweis auf eine Schädigung der körperlichen und geistigen Gesundheit des Kindes sowie über Beratung und Vermittlung im Falle eines Schwangerschaftsabbruchs“. Sie hat den Zettel bis heute aufbewahrt - Marjas „Todesurteil“ nennt sie ihn in ihrem Buch.
Für einige Stunden sei sie überzeugt gewesen, dass es besser für ihre Tochter wäre, nicht geboren zu werden, sagt Sandra Schulz. Dennoch sei ein Schwangerschaftsabbruch für sie unvorstellbar gewesen. „Ich konnte weder an den Abbruch selbst noch an den Tag danach denken. Eben weil es so schlimm gewesen wäre.“ Sie lässt auch den zweiten Termin verstreichen.
Sandra Schulz hält sich lange die Option für einen Spätabbruch wochenlang offen
Wochenlang hält sie sich danach die Option für einen Spätabbruch weiter offen. „Diese Ambivalenz war das Schlimmste“, sagt sie. „Plötzlich steht man ohne jegliches Koordinatensystem da und soll eigenverantwortlich eine Entscheidung treffen, die man gar nicht tragen kann.“ Die Entwicklung der Pränataldiagnostik mache diese Entscheidung nicht leichter für betroffene Frauen: „Die vorgeburtliche Diagnostik wird immer besser und verschiebt sich dahingehend, dass gezielt nach Behinderungen, Fehlbildungen und Krankheiten gesucht wird, die man aber oft gar nicht im Mutterleib therapieren kann. Bis zu der Erwartung der Gesellschaft, dass eine Frau im Fall der Fälle entsprechend handelt, ist es nicht weit. Andererseits reden alle von Inklusion. Das passt nicht zusammen.“
Innerlich längst entschieden
Sandra Schulz konsultiert weitere Ärzte. „Ich dachte, es muss doch jemanden geben, der eine genaue Prognose abgeben kann. Ich muss nur richtig recherchieren. Doch irgendwann habe ich begriffen, dass ich noch so viel fragen kann - ich werde keine Antwort bekommen. Man muss akzeptieren, dass es so ist, wie es ist.“ Innerlich hatte sie sich längst für ihr Kind entschieden. Marja wird am 10. März 2015 per Kaiserschnitt geboren - elf Wochen zu früh.
Sandra Schulz: „Es stand so oft Spitz auf Knopf - sie hat sich immer für das Leben entschieden“
Sandra Schulz hat ein Fotoalbum zum Treffen mitgebracht. Marja auf dem Bauch der Mutter. Vor einer Operation. Marja bei ihrem ersten Geburtstag. Ihre blauen Augen blitzen, feines blondes Haar ringelt sich um ihr Gesicht. Begeisterungsfähig sei ihre Tochter, sagt Sandra Schulz, neugierig und ehrgeizig. „Es stand so oft Spitz auf Knopf - sie hat sich immer für das Leben entschieden.“