Elsdorf bei Köln Elsdorf bei Köln: Erzieherin verlor nach falschen Missbrauchsvorwürfen ihr Urvertrauen

Elsdorf - Vor einiger Zeit, sagt Sandra B., habe sie an der Kasse im Supermarkt gestanden. „Vor mir in der Schlange war ein kleines Mädchen. Das hat mich angelächelt. Ich habe spontan zurückgelächelt und gleich darauf einen Riesenschreck bekommen. Ich habe mir gesagt: Das darfst du nicht. Das geht nicht mehr.“
Im März 2015 geriet die Erzieherin in Verdacht, in einer Kindertagesstätte in Heppendorf bei Elsdorf mehrere Kinder missbraucht zu haben. Zwei Monate später wurde das Ermittlungsverfahren gegen sie „mangels hinreichendem Tatverdacht“ eingestellt. Sandra B. verlor dennoch ihre Existenz. Und: Sie verlor den Glauben an andere Menschen. „Das Urvertrauen ist weg. Ich habe erlebt, dass man von jetzt auf gleich zum Opfer werden kann. Und keiner hilft einem. Egal, ob man unschuldig ist oder nicht.“
Wir sitzen in einem Bistro am Marktplatz von Düren. Gläser klirren, eine Espressomaschine faucht. Sandra B. möchte nicht, dass ihr richtiger Name genannt wird. Auch ihr Wohnort, ein Dorf in der Nähe der Kreisstadt, tue nichts zur Sache, sagt sie. 30 ist sie vor kurzem geworden, eine junge Frau mit kurzen, dunklen Haaren und schwarz umrandeten Augen. Sie ist seit Monaten krankgeschrieben. Kürzlich hat sie bei der Deutschen Rentenversicherung wegen einer beruflichen Rehabilitation vorgefühlt: Irgendetwas Richtung Theaterpädagogik schwebe ihr vor, sagt sie. „Erzieherin war meine Berufung, aber ich kann nicht mehr mit kleinen Kindern arbeiten. Ich habe es versucht, doch ich bekomme Panikattacken, wenn ich allein mit ihnen bin.“
Kita-Leiterin seit Tagen „komisch“
Ein Jahr ist vergangen, seit Sandra B. verdächtigt wurde, am Wickeltisch der Kita St. Dionysius Manipulationen an kleinen Mädchen vorgenommen zu haben. Sie ist zu dem Zeitpunkt beim Katholischen Kirchengemeindeverband Elsdorf beschäftigt. In den sieben Jahren zuvor hat sie in verschiedenen Einrichtungen als Kinderpflegerin gearbeitet und nebenbei eine Ausbildung zur Erzieherin begonnen. In Heppendorf absolviert sie ihr Anerkennungsjahr. Noch in diesem Jahr will sie die Ausbildung beenden.
Die Kita-Leiterin sei bereits seit Tagen „komisch“ zu ihr gewesen, erinnert sie sich. „Sie hat mich nicht mehr mit den Kindern allein gelassen.“ Am 6. März, einem Freitag, wird sie schließlich in das Büro der Chefin einbestellt. Eine Mitarbeitervertreterin, die Gemeindereferentin und „jemand vom Erzbistum Köln“ erwarten die angehende Erzieherin bereits. „Dann wurde mir gesagt, dass der Vorwurf des sexuellen Missbrauchs im Raum stehe“, erinnert sich Sandra B. „Ob ich mir das vorstellen könnte?“
Sie sei, sagt sie, aus allen Wolken gefallen. „Ich habe gesagt, dass dem nicht so sei. Ich wusste ja nicht mal, was mir vorgeworfen wurde. Daraufhin wurde mir mitgeteilt, dass ich beurlaubt werde. Es sei denn, ich fühlte mich am Montag nicht arbeitsfähig. In dem Fall könnte ich mich krankschreiben lassen, und es würden weniger Fragen auftauchen. Besonders von Seiten der Kolleginnen.“
Als Sandra B. an diesem Freitag die Kita verlässt, weiß sie noch nicht, dass sie nie wieder in dem hellen Haus mit den fröhlich-bunten Regenbögen in den Fenstern arbeiten wird. „Das Wochenende war schlimm. Ich bin in der Wohnung herumgelaufen und habe immer nur gedacht: So etwas kann doch mir nicht passieren.“ Irgendwann setzt sie sich an ihren Laptop und schreibt eine Mail an ihre Chefin. Darin steht, dass sie sich nicht krankschreiben lassen wird. „Ich hatte mir schließlich nichts vorzuwerfen“, sagt sie. Sie habe auch geschrieben, dass es gut sei, einem solchen Verdacht nachzugehen. „Dass sie das Richtige tun, wenn sie diese Sache weiterverfolgen.“
Die Reaktionen des Erzbistums Köln
Im Erzbistum Köln weiß man seit Montag, 2. März, von den Vorwürfen gegen Sandra B. Der Mutter eines dreieinhalbjährigen Mädchens, das die Kita in Heppendorf besucht, seien beim Wickeln des Kindes Verhaltensweisen aufgefallen, die sie beunruhigten, sagt Oliver Vogt, Interventionsbeauftragter des Erzbistums Köln und Leiter der Stabsstelle Intervention. „Das Kind hat sexuelle Handlungen geschildert, die es nicht in einer normalen Situation zu Hause erlebt haben konnte.“ Auch die Namen anderer Kinder seien in diesem Zusammenhang gefallen. Die von einigen Nachbarn der Eltern. Und der Name „Sandra“.
Als die Mutter der Kita-Leiterin von ihren Beobachtungen berichtet, rät die ihr, sich an das Erzbistum zu wenden. Montagmorgen setzt sich die junge Frau mit Christa Pesch in Verbindung und gibt zu Protokoll, was die Tochter ihr erzählt hat. Die Diplom-Sozialpädagogin ist eine von drei Ansprechpersonen für sexuellen Missbrauch im Bistum, der Bericht der Mutter erscheint ihr glaubwürdig. Das Kind wird nicht befragt. Noch am selben Tag erstellt Pesch ein Gesprächsprotokoll und informiert die Stabsstelle Intervention.
Die wiederum kontaktiert umgehend die Kindertagesstätte in Heppendorf und fragt nach, ob dort vielleicht mehrere Frauen mit dem Namen Sandra arbeiten. Es gibt nur eine: Sandra B. Um 17 Uhr stellt das Erzbistum bei der Kölner Staatsanwaltschaft Strafanzeige wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauch und legt das Gesprächsprotokoll bei. „Die Schilderung der Mutter legte nahe, dass Gefahr in Verzug war“, begründet Vogt die Eile. Am nächsten Morgen informiert das Erzbistum das LVR-Landesjugendamt und das Jugendamt in Elsdorf.
Bistum hält sich an die Leitlinien
Das Kölner Erzbistum hält sich bei seinem Vorgehen streng an einen Katalog kircheninterner Vorgaben: an die „Leitlinien für den Umgang mit sexuellem Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker, Ordensangehörige und andere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“.
Doch schon im Laufe der gleichen Tages schmettert die Kölner Staatsanwaltschaft „die Aufnahme von Ermittlungen mangels Vorliegens eines Anfangsverdachts“ ab. Man sei der Auffassung gewesen, „dass das betreffende Kind keine belastbaren Angaben gemacht habe, die auf eine konkrete Tat hätten schließen lassen können“, erläutert Staatsanwalt Ulrich Bremer die Weigerung der Kollegen, in dieser Angelegenheit tätig zu werden. Das Erzbistum wird zwei Tage später schriftlich informiert.
Stabsstellenleiter Vogt erinnert sich noch gut an die fassungslosen Mienen im Generalvikariat, als der Ablehnungsbescheid bekanntwurde. „Wir konnten nicht nachvollziehen, warum die Staatsanwaltschaft nicht ermitteln wollte. Eben weil sich die Verdachtsmomente aus unserer Sicht so deutlich auf eine Person konzentrierten. Wir alle, auch die Jugendämter, waren überzeugt: Da ist etwas gewesen. Wir hatten die Schilderung des Mädchens. Wir hatten einen Namen, und wir wussten, dass es möglich gewesen wäre. Dem musste angesichts der Schwere der Vorwürfe und im Sinne der uns anvertrauten Menschen nachgegangen werden.“
Noch an diesem Donnerstag, 5. März, beruft das Erzbistum eine Fallkonferenz ein. Unterstützt von Jugendamt und Landesjugendamt will es Beschwerde einlegen gegen die Entscheidung der Kölner Staatsanwaltschaft. Am Montag, 9. März, geht ein entsprechendes Schreiben in die Post. Am selben Tag wird Sandra B. bis zur Klärung der Vorwürfe freigestellt.
Die Reaktionen der Eltern
Die Eltern von zwei weiteren möglicherweise betroffenen Kita-Kindern sind bereits im Laufe der Woche über den Verdacht gegen die Erzieherin informiert worden. Die Dreieinhalbjährige, deren Geschichte die Sache ins Rollen gebracht hatte, hatte erzählt, dass die beiden ebenfalls an „Mädchenspielen“ teilgenommen hätten.
„Keiner von uns konnte die Entscheidung der Staatsanwaltschaft nachvollziehen“, rechtfertigt Till Döring, Sprecher des LVR-Landesjugendamts, den gemeinsamen Vorstoß bei der Generalstaatsanwaltschaft. „Wir sind per Gesetz dazu verpflichtet, das Kindeswohl an Kindertageseinrichtungen sicherzustellen und mussten schnell reagieren.“ Es gehe nicht darum, festzustellen, ob die Vorwürfe gerechtfertigt seien oder nicht. „Das ist die Aufgabe der Polizei. Unsere Aufgabe ist es, diesen mutmaßlichen Zustand in der Kita abzustellen. Dabei steht das Wohl der Kinder über dem Wohl desjenigen, der beschuldigt wird.“
Eine Woche vergeht. Dann, am Montag, 9. März, wird in der Kita eine erste Elternversammlung einberufen. Auf dem Podium: die Kita-Leiterin, die Gemeindereferentin, ein Psychologe sowie Vertreterinnen und Vertreter des Erzbistums und der beiden Jugendämter. Vor dem Podium: Dutzende aufgebrachte Eltern, die wissen möchten, was sie sich unter den möglichen „Grenzverletzungen“ einer namentlich nicht genannten Kita-Mitarbeiterin vorzustellen haben.
„Wir wollten nicht länger abwarten, ob und wann die Staatsanwaltschaft aktiv wird, und sind unserer Informationspflicht nachgekommen“, sagt Vogt. „Zumal davon auszugehen war, dass sich der Vorgang herumspricht.“ Man habe die Eltern dringend gebeten, im Interesse der Kinder und der Einrichtung nicht öffentlich über den Missbrauchsverdacht zu reden. Doch schon am nächsten Tag macht die Geschichte im Dorf die Runde. Der Name Sandra B. fällt. Die ersten Zeitungsartikel erscheinen. Der WDR berichtet.
Geschichten kursierten
„Man hörte überall die Gerüchte“, sagt Ortsvorsteher Dietmar Wildner. „Keiner wusste etwas Konkretes, aber man erzählte sich viele Geschichten.“ Auch ein Gemeindemitglied, das namentlich nicht genannt werden möchte, erinnert sich an die lebhaften Diskussionen im Dorf und in den sozialen Netzwerken. Ihm sei von Anfang an klar gewesen, dass hier ein Mensch ruiniert werde, ganz egal, wie diese Geschichte ausgehe. Jemand, auf den ein solcher Vorwurf falle, habe es sehr schwer, wieder Vertrauen zu gewinnen.
Am 20. geht das Erzbistum selber in die mediale Offensive. „Der Träger der katholischen Kindertagesstätte St. Dionysius in Elsdorf-Heppendorf hat in enger Abstimmung mit dem Erzbistum Köln eine Erzieherin vom Dienst freigestellt“, heißt es in einer Presse-Mitteilung. „Es besteht nach Einschätzung des Trägers und des Erzbistums der Anfangsverdacht von sexuellem Missbrauch an mehreren Kindern der Einrichtung.“
Wenig später nimmt die Staatsanwaltschaft Köln die Ermittlungen auf. „Die zeugenschaftlichen Angaben“ seien teilweise ausreichend konkret gewesen, sagt Staatsanwalt Bremer. Die Polizei vernimmt zunächst die Eltern von drei Kindern. Die Kinder selber werden später von entsprechend geschulten Psychologen befragt.
Die Folgen des Missbrauchsvorwurfs
Sandra B. hat inzwischen eine Rechtsanwältin eingeschaltet. Erst von ihr habe sie erfahren, was ihr im Einzelnen vorgeworfen wurde, sagt sie. „Ich hatte das Gefühl, dass die katholische Kirche mit meinem Fall zeigen wollte, dass sie in der Lage ist durchzugreifen. Mich hat vor allem verletzt, dass man einen Menschen ohne ein anständiges Gespräch einfach fallenlässt.“
Mit Mühe beendet sie ihre Ausbildung. Geht kaum noch aus dem Haus. Nach Heppendorf traut sie sich erst recht nicht mehr. Daran hat sich bis heute nichts geändert. „Weil ich nicht weiß, wie die Eltern in der Kita über mich denken. Ob sie mich verurteilen.“
Im Erzbistum weiß man, welche Folgen ein Missbrauchsverdacht für die Beschuldigten haben kann. „Was wir auch tun, wir geraten unter Rechtfertigungsdruck“, sagt Vogt resigniert. „Wenn wir nicht rechtzeitig eingreifen, heißt es, wir vertuschen etwas. In diesem Fall wurde uns vorgeworfen, womöglich überreagiert zu haben. Doch für uns stand das Wohl der Kinder im Vordergrund.“
Am 15. Mai 2015 stellt die Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren ein. „Die durchgeführten Ermittlungen haben keinen genügenden Anlass geboten, Anklage zu erheben“, erklärt Staatsanwalt Bremer das Aus. Kurz darauf informiert das Erzbistum die Eltern, dass kein hinreichender Tatverdacht gegen Sandra B. bestehe. Nicht alle glauben das.
Sandra B. ist inzwischen aus der Kirche ausgetreten. In der Kita St. Dionysius will niemand mehr über die Vorfälle sprechen. „Es gibt in diesem Fall nur Verlierer“, sagt Oliver Vogt. Er hofft, dass irgendwann alle Wunden heilen.