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Deutscher erlebt Nacht des Terrors in Paris Deutscher erlebt Nacht des Terrors in Paris: "Da wurde mir mulmig zumute"

Von Alexander Schierholz 15.11.2015, 21:10
Nach dem Ende des Länderspiels mussten am späten Freitagabend noch zahlreiche Zuschauer aus Sicherheitsgründen im Innenraum des Stadions ausharren.
Nach dem Ende des Länderspiels mussten am späten Freitagabend noch zahlreiche Zuschauer aus Sicherheitsgründen im Innenraum des Stadions ausharren. ap Lizenz

Halle (Saale) - Wann Jonathan Fasel sich zum ersten Mal Sorgen gemacht hat, lässt sich im Nachhinein gar nicht mehr so genau sagen. War es, als sie im Stadion die Detonationen gehört haben, so laut, dass es unmöglich herkömmliche Böller gewesen sein können? War es in der zweiten Halbzeit, als immer mehr Hubschrauber über dem Stadionrund kreisten? Aber welche Rolle spielt das noch, wenn man gerade mit dem Leben davon gekommen ist?

Jonathan Fasel, 31, ist im Stade de France am Abend des 13. November, als der Terror Paris heimsucht. Er will sich mit einem Freund das Freundschaftsspiel Deutschland-Frankreich ansehen. Er, der Deutsche, der nach dem Studium in Leipzig vor ein paar Jahren direkt nach Paris gegangen ist und dort im Presseteam eines großen Unternehmens arbeitet. Und sein Begleiter, ein Franzose. Es lebe die Freundschaft! Aber dann gehen außerhalb des Stadions drei Bomben hoch. Vier Menschen sterben, darunter die Attentäter. Und wenn diese ihren Plan, ins Stadion vorzudringen, hätten verwirklichen können, hätten noch viel mehr den Tod gefunden.

Lieber zu Hause als draußen

Am Samstagvormittag sitzt Jonathan Fasel zu Hause. Am Telefon berichtet er nüchtern und gefasst von der Horrornacht und den Folgen. „Die Lage bleibt unübersichtlich“, sagt er. Viele in Paris verbringen den Tag danach lieber in ihren Wohnungen als draußen auf den Straßen. Selbst die Regierung empfiehlt das.

Im Stade de France bricht am Freitagabend gegen 21.20 Uhr der Schrecken herein über die 78.000 Zuschauer. Die erste Explosion ist zu hören, so ohrenbetäubend laut, schildert Fasel, „dass ich das Gefühl hatte, da hat direkt neben mir jemand etwas gezündet“. Wie alle anderen Besucher fragt er sich, was die Ursache sein könnte. „Es war kein Effekt zu sehen, wie bei Bengalos, kein Rauch, kein Feuer. Das war merkwürdig.“ Etwa zehn Minuten später die zweite Detonation, andere Augenzeugen werden später sagen, das Stadion habe leicht gebebt. In der Halbzeitpause schließlich kracht es zum dritten Mal.

Anruf vom Vater aus Deutschland

Trotzdem ist die Stimmung gut, Fußball, das ist doch das, worum es hier geht, oder? La-Ola-Wellen schwappen durchs Stadion, aber in der zweiten Halbzeit bemerkt Jonathan Fasel plötzlich eine Veränderung: Im VIP-Bereich, wo Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande und seine Gäste sitzen, machen sie immer weniger mit beim ausgelassenen Feiern. „Die müssen schon etwas gewusst haben“, mutmaßt Fasel. Das Ende des Spiels bekommt Hollande schon nicht mehr mit.

In der 70. Minute erhält Jonathan Fasel einen Anruf von seinem Vater, der in Tübingen lebt: „In den Nachrichten ist von Explosionen in Paris die Rede, ist alles o.k. bei dir?“ - „Ja, mach dir keine Sorgen.“ - „Bleibt, wo ihr seid!“ Auch Fasels Sitznachbarn im Stadion haben zu dieser Zeit ähnliche Nachrichten oder Anrufe bekommen. Spätestens jetzt ist allen klar: Da muss etwas passiert sein.

80. bis 85. Minute: Mittlerweile strömen schon viele Zuschauer zu den Ausgängen, erinnert sich Fasel. „Die Stimmung war angespannt, aber es hat keine Panik geherrscht.“ Fasels größte Sorge gilt zu diesem Zeitpunkt der Frage, „wie ich nachher gut nach Hause komme“. Er und sein Freund warten den Schlusspfiff ab. Sie sitzen direkt neben einem Ausgang, binnen zwei Minuten sind sie draußen.

Flucht zurück ins Stadion

Vor dem Stadion versuchen sie inmitten der Menschenmenge bis zum nahen S-Bahnhof zu gelangen. Unruhe ist spürbar, viele Menschen telefonieren. Fasel bekommt plötzlich mit, wie viele sich wieder umdrehen und ihnen entgegenlaufen, zurück in Richtung Stadion. „Da wurde mir mulmig zumute“, sagt er. Er hat Angst, dass die Situation außer Kontrolle gerät. Sein Begleiter, ein Baum von einem Mann, zwei Meter groß, 180 Kilo schwer, versucht ihn und andere zu beruhigen. Was die Umkehr auslöst, ist nicht klar, doch viele flüchten wieder zurück ins Stadion. Nicht so Fasel und sein Freund, sie schaffen es schließlich doch in eine S-Bahn in Richtung Nordbahnhof.

Im Zug telefonieren sie wieder, tauschen Nachrichten aus, wie so viele andere auch. So bekommen sie schnell das ganze Ausmaß der Anschläge mit - Attentate nicht nur vor dem Stadion, sondern auch in Bars, Restaurants, dem Musikklub „Bataclan“. Mindestens 129 Menschen werden Todesopfer des Terrors in dieser Nacht, Hunderte werden verletzt. Das ist die vorläufige Bilanz des Schreckens.

Lesen Sie auf der nächsten Seite unter anderem, wie Fasel mit seiner Angst umgehen will und wieso er sich nicht einschüchtern lassen möchte.

Zwischendurch meldet sich sein Vater noch einmal: „Nimm dir ein Hotelzimmer!“ Aber Jonathan Fasel möchte nur noch nach Hause. „Ich wollte in meinen privaten Schutzraum.“ Vom Nordbahnhof aus sind es noch drei Stationen mit der Metro. Fasel wohnt in Pigalle, dem bekannten Vergnügungsviertel, Heimat des weltberühmten Varietés „Moulin Rouge“. Restaurants, Bars und Sex-Shops bestimmen dort das Bild. Immer herrscht ausgelassenes Leben auf den Straßen, aber an diesem Abend ist die Stimmung gedrückt. „Das war schon surreal“, sagt Fasel. Drei Viertel der Ausgehläden haben dicht, auch seine Stammkneipe. „Dass die nicht offen ist, habe ich noch nie erlebt.“

Zuhause tun er und sein Kollege, mit dem er die Wohnung teilt, was alle tun, die in Paris in dieser Nacht in Sicherheit sind: Sie schauen Nachrichten und versuchen, mit Familie, Freunden und Bekannten in Kontakt zu kommen. Als erstes ruft Jonathan Fasel seine Frau in Dresden an, dann noch einmal seinen Vater in Tübingen: „Ich bin ok!“ Um halb vier in der Früh fällt er ins Bett. Ein paar Stunden Schlaf, bis ihn am Samstagvormittag eine Freundin rausklingelt, die wissen möchte, wie es ihm geht.

Und, wie geht es ihm? „Jetzt geht es mir gut“, sagt er mit fester Stimme, „aber am Freitagabend waren die Knie weich“.

Bloß keine Angst einjagen lassen

Hat er Angst? „Ich weiß es noch nicht“, antwortet er. „Ich weiß noch nicht, wie es sein wird, wenn ich mich wieder mit Freunden in einem Café treffe oder ein Bier trinken gehe.“ Aber, schiebt er hinterher, er wolle sich keine Angst einjagen lassen. „Das ist ja genau das, was diese Typen wollen!“

Die Straßen und Plätze in Paris sind wie leer gefegt an diesem Wochenende. Jonathan Fasel ist dennoch davon überzeugt, dass am Montag das Leben weitergehen wird. Es muss ja irgendwie weiter gehen. So sei es auch nach den Anschlägen von Islamisten auf das Satire-Magazin „Charlie Hebdo“ und einen jüdischen Supermarkt im Januar gewesen, sagt Fasel. Der Alltag sei in Paris schnell zurückgekehrt. „Davon war ich positiv überrascht.“

Aber etwas ist jetzt anders als damals. „Damals hat man sich auch bedroht gefühlt“, sagt er, „aber nicht so unmittelbar.“ Jetzt aber hat der Terror Menschen getroffen, die nicht deshalb sterben mussten, weil sie Texte geschrieben oder Karikaturen gezeichnet haben. Oder weil sie in den Augen der Attentäter an den falschen Gott geglaubt haben. Sie mussten sterben, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren, Opfer eines grausamen Zufalls.

Im Musikklub „Bataclan“, wo allein fast hundert Zuhörer eines Auftritts der US-Band „Eagles of Death Metal“ von den Terroristen erschossen wurden, war Jonathan Fasel selbst vor zwei Jahren Gast eines Konzertes. Auf dem Weg zu einem Pub, wo er Fußball schaut, kommt er regelmäßig am „Bataclan“ vorbei. Die Musikhalle gehört irgendwie zu seinem Leben. Jetzt ist ihr Name ein Synonym für Terror. (mz)