Aussteiger Aussteiger: Der Wald ist nicht genug
Halle/MZ. - Um den Kopf flattert ihm langes Grauhaar, am Hals schwingt ein Holzkreuz und unter dem Arm trägt er ein Laptop mit Internet-Anschluss. "Hier unten", sagt Öff!Öff!, der seit 15 Jahren ohne Papiere und Geld lebt, "reicht ja kein Netz hin."
Dafür ist es idyllisch still am Ufer des Bächleins Skala in der Nähe des Lausitz-Örtchens Kittlitz, wo Öff!Öff!, seine Freundin Moni und ihre Tochter Johanna neuerdings ihre Zelte aufgeschlagen haben. Eine matte Herbstsonne blinzelt durch Blätter, die vergessen haben, von ihren Zweigen zu fallen. Das Wasser flüstert und auf einem wackligen Stuhl vor der "Villa Hühnerglück" streckt Öff!Öff! die Beine aus, die in Hosen aus Sofadecke und Angelgarn stecken. Der eisige Wind, der das Tal entlangpeitscht, lässt den 42-Jährigen kalt. "Kälte ist für mich wie ein abgerissener Schnürsenkel", spricht es aus malerisch verfitzten Vollbartgewirr, "so lange der Schuh zu binden geht, denke ich nicht dran."
Nicht nach so vielen Wintern auf der Straße, in Abrisshäusern und selbst gebauten Zelten. Als Jürgen Wagner, Student der Theologie und Psychologie, vor 16 Jahren zu Öff!Öff! wurde, war er sich sicher, das Richtige zu tun. "Schon mit 13 wusste ich, wo mein Weg hinführt", sagt er. Damals habe ihn, mitten in einem Sonntagsspaziergang mit seinen Brüdern, ein göttlicher Funke berührt und kurzerhand in Brand gesteckt: "Ich wusste plötzlich", beschreibt der Sohn eines Gladbecker Bankkassierers, "dass ich ohne Besitz und ohne Karriere leben werde."
In den Jahren danach hat Jürgen Wagner "in langen Gesprächen mit mir selbst" nach der einen großen Frage gesucht, auf die zu antworten sich lohnt. Kann der Mensch weiter leben, wie er lebt, wenn er dabei alles zerstört, wovon er lebt? Und angenommen, die Antwort laute nein - wie radikal müsste man selbst verzichten, um aufzurütteln und andere anzustecken?
Öff!Öff!, von Freunden griffig Öffi gerufen, hat sich für den totalen Verzicht entschieden. Kein Geld. Kein Eigentum. Keine Macht. Als Schenker, sagt er, lebe er - wie eine Handvoll Gleichgesinnter - von dem, was andere freiwillig abgeben. Altbackenes Brot schenkt der Bäcker, Gammelobst findet er im Container hinter dem Supermarkt. Dazu Kräuter und Wurzeln, Schnecken und Käfer aus dem Wald. Viel mehr braucht der Mensch nicht, lächelt Öff!Öff! durch eine Zahnlücke, die er wie einen Orden trägt: Als er neulich Zahnschmerzen hatte, hat er die Ursache mit der Kombizange herausgebrochen.
Was wie der Versuch wirkt, die Gesellschaft hinter sich zu lassen, soll ein Generalangriff auf die Gesellschaft sein. Denn der Wald ist Jürgen Wagner nicht genug. "Es geht darum", ruft er, "dass es Alternativen gibt." Niemand müsse mitrennen im Hamsterrad des Konsums, keiner sei anderem verpflichtet als seinem eigenen Gewissen.
Der Mann, der einstmals Pfarrer werden wollte, ist jetzt ein Prediger in eigener Sache. Ein paar Leute ohne Fernseher, Abendbrotbier und Badewanne sind nur der Anfang. Öff!Öff!, der Mahatma Ghandi zitiert und Franz von Assisi, spricht in Sätzen voller Ausrufezeichen von Klimakatastrophe, Atom-Bedrohung und dem Hunger in der Welt. Er hat keine Zweifel mehr. Alles steht auf dem Spiel! Also müsse man alles wagen. "Selbst wenn ein Erfolg unmöglich ist."
Unter der wettergegerbten Lederhaut glüht Öff!Öff! für seine Idee von der "wehrlosen, schenkenden Liebe", die aus Kettenbrief-Logik ein Erlösungsversprechen klöppelt. Wenn alle allen alles geben, haben alle genug, oder? "Bei den Naturvölkern funktioniert das seit Jahrtausenden!", erläutert Öff!Öff! Niemand müsse kämpfen, keiner mehr streiten. Die Welt würde schlagartig ein besserer Ort für jedermann. "Wir leben dann bescheidener", sagt Öff!Öff! und beißt in einen gerade aufgesam- melten Apfel, "vielleicht in Lehmhütten, aber durchaus mit Laptops." Vielleicht ohne Flugzeuge, aber voller Fantasie. Alles, was es braucht, ist ein Grundkonsens, schwört er, und die wasserblauen Augen blitzen froh.
In der Theorie ein charmantes Konzept. In der Praxis zuletzt Anlass für ausgedehnte Schenker-Schlachten. In deren Folge wurde Gründervater Öff!Öff! aus dem Schenker-Sozialprojekt "Haus der Gastfreundschaft" im mecklenburgischen Dagelütz vertrieben. Er habe nicht zusehen wollen, sagt er, wie Schenker-Grundsätze aufgeweicht werden. Er habe wie ein Guru stets das letzte Wort gehabt, knurren seine Kritiker. Und dann sei er auch noch mit der kleinen Johanna als "Waldbaby" auf dem Arm über den Medien-Boulevard gepilgert!
Öff!Öff! lächelt. Er weiß, dass auch die beste Idee die Welt nur retten kann, wenn alle erfahren, dass es sie gibt. Hat er dafür gesorgt? Hat er. War das falsch? Niemals. Würde er es wieder tun? Aber jederzeit. Schließlich isst er Ameisen und Schnecken auch nicht direkt aus Hunger, sondern meist nur, weil die Fernsehteams, die vorbeikommen, gute Bilder brauchen.
"Ich betrachte das alles als soziologisches Experiment", raunt er milde, umweht von einer Wolke aus luftgetrocknetem Männerschweiß. Auch Rückschläge brächten ein solches Experiment voran: "Die Frage ist doch, fallen wir in dieselben Muster wie andere, oder können wir sie überwinden."
Im Augenblick sieht es nach etwas zwischen diesem und jenem aus. Die Guru-Rufer siedeln weiter in Mecklenburg, haben aber versprochen, die Schenker-Grundsätze in Frieden zu lassen. Öff!Öff! hat hier unten in der Lausitz das Biotopia-Projekt gegründet, den alten Hühnerstall des Mühlenkneipers sauber gemacht und eine neue Erdhöhle gegraben, zwei Meter breit und seine schönste bisher. Von oben hat er einen prima Blick über das Skala-Tal. Wenn er sich setzt, ist es sogar fast wie auf der Terrasse einer richtigen Datsche.
Tochter Johanna, die ursprünglich nicht vorkam in der Experimentieranordnung, ist inzwischen anderthalb und ein bisschen aus den Schlagzeilen raus. Was später mal werden soll, Schule oder nicht, bürgerliches Leben bei den Großeltern oder Waldleben mit Moni und ihm? Öff!Öff! lässt die Schultern zucken.
"Hanna wird das selbst entscheiden", sagt er, der seine Zukunft einstweilen sowieso verplant hat. Wacht die Welt nicht innerhalb der nächsten acht Jahre auf aus ihrem Wachstumswahn, will Öff!Öff! ein Versprechen einlösen, das er sich selbst schon vor Jahren gegeben hat: Zum 50. Geburtstag wird er sich ein Fasten bis zum Tode schenken. Retten kann ihn dann nur noch die Welt, indem sie ihm endlich mal zuhört. Jürgen Wagner sagt, er habe keine Angst vor dem Tag, an dem Öff!Öff!s letzter Aufschrei verstummt. "Dann ist ja auch alles gesagt."