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Außergewöhnlicher Selbstversuch Außergewöhnlicher Selbstversuch: Trio lebt zwei Wochen in der Steinzeit

Von Petra Pluwatsch 21.08.2015, 19:48
Ein selbstgenähtes Kleid aus Leinenstoff trägt Veronika Hocke.
Ein selbstgenähtes Kleid aus Leinenstoff trägt Veronika Hocke. dpa Lizenz

„Die Walnüsse gehen gar nicht.“ Marco Hocke wirft einen strafenden Blick auf eine Tonschale in Lukas Heinens Hand. „Die gab es damals vermutlich noch nicht. Die sind nicht authentisch.“ Authentisch, das sind der Sellerie, die Äpfel und die wilden Möhren, die Ehefrau Veronika gerade aus einem etwas angeschmuddelten Leinenbeutel zieht. Das sind die selbstgepflückten Brombeeren und das steinharte Haselnussbrot, das es gestern zum Abendessen gab. Authentisch sind auch die offenen Stellen an Lukas Heinens Füßen, dort, wo diese verdammten, selbstgenähten Rindslederschuhe mit der sanft gebogenen Spitze sie wund und blutig gescheuert haben.

400 Kilometer bis Bonn

Wir befinden uns im Jahr 5000 vor Christi. Jungsteinzeit im Teutoburger Wald. Der Homo sapiens hat die – vorerst – letzte Eiszeit in ausreichender Zahl überstanden, das Mammut und andere Urzeitgiganten sind Geschichte. Er hat angefangen, erste Siedlungen zu gründen, rauchdurchzogene Langhäuser ohne Abzug zu bauen und seine Felder mit Emmer, Gerste und Einkorn zu bestellen. Er kennt Hund und Ziege als Haustier.

„Die Jungsteinzeit war die Zeit des ersten großen Umbruchs in der Geschichte der Menschheit, vergleichbar mit der industriellen oder der digitalen Revolution“, sagt Marco Hocke. „Viele Probleme, die wir bis heute haben, sei es Karies oder die Überbevölkerung, resultieren letztendlich aus der Zeit vor 7000 Jahren.“ Aus einer Zeit, als der Mensch sesshaft wurde.

Marco Hocke, 34 Jahre alt und selbstständiger Stadtführer in Köln, muss das wissen. Als Archäologe kennt er sich bestens aus im Alltag längst vergangener Epochen. Er macht mit Freunden Musik auf Mittelaltermärkten, und jetzt ist er beteiligt am Zustandekommen der Ausstellung „Revolution Jungsteinzeit“, die am 5. September im LVR-Landesmuseum in Bonn eröffnet wird. Und eben deswegen sitzt er an diesem frischen Sommermorgen zusammen mit seiner Frau Veronika und seinem alten Kumpel Lukas Heinen in einem selbstgeschneiderten Steinzeit-Outfit unter einer ausladenden Buche nahe der Externsteine im Teutoburger Wald.

Am vergangenen Sonntag ist das Trio in Detmold im Lippischen aufgebrochen, um zwei Wochen lang zu leben wie die Menschen vor 7000 Jahren. Und natürlich, um die ein oder andere wissenschaftliche These auf ihre Alltagstauglichkeit zu prüfen. Paderborn, Warstein, Hagen, Herne, Bochum, Köln – die Zahl der avisierten Stationen ist groß. Am 30. August soll der knapp 400 Kilometer lange Ötzi-Walk in Bonn enden.

Auf dem nahen Wanderweg ziehen verblüffte Wandergruppen vorüber. Veronika Hocke trägt ein bodenlanges Gewand aus Leinen. Das riecht nach Rauch und Gras und offenem Feuer. An den Ärmeln und am Saum ist es mit Bordüren aus Fell verziert. Ein breites Band hält das hochgesteckte Haar der 33-Jährigen zusammen. „Was macht ihr da?“, kräht ein aufgewecktes Mädchen und wirft einen herausfordernden Blick in die Runde. „Wir sind Steinzeitmenschen und testen die Ausrüstung“, ruft Lukas Heiner zurück.

Das Equipment für den Kurztrip in die ferne Vergangenheit ist überschaubar: Drei selbstgezimmerte Kiepen aus mehreren zusammengebundenen Haselnuss-Gerten, bespannt mit Rinder- und Ziegenfell. Nachempfunden sind sie dem Reisegepäck, das Jungsteinzeit-Jäger Ötzi, die einzig komplett erhaltene Gletscherleiche aus jener Zeit, vor mehr als 5000 Jahren durch die verschneiten Südtiroler Alpen schleppte.

In den rund zehn Kilo schweren Kiepen stecken Essensvorräte, Leinenschlafsäcke und leinene Unterwäsche. Ein tönernes Trinkgefäß, wasserfest gemacht mit Leinöl, gehört ebenfalls zur Steinzeit-Ausrüstung. Dazu sechs Schaffelle und ein Hirschhaut gegen die nächtliche Kälte im deutschen Mischwald – zu wenig, um sich warmzuhalten, wie die Ötzi-Walker nach der ersten Nacht unter freiem Himmel feststellen mussten.

Eineinhalb Monate dauerte die Vorbereitung auf die Tour. Am meisten Zeit nahm die Herstellung der Kleidung in Anspruch: weit geschnittene Kittel und Hosen für die Männer, das Kleid für Veronika Hocke, zusammengenäht mit Tierdärmen. Vieles bleibt der Fantasie überlassen. Zeugnisse aus dem Alltag jener Zeit sind rar. „Wir haben Schweinedärme beim Metzger bestellt und auf dem Balkon getrocknet, ehe wir sie gewachst und vernäht haben“, sagt Veronica Hocke. Die Tierfelle stammen aus dem Internet. Das bauchige Trinkgefäß, das Lukas Heinen an einer Schnur von der Schulter baumelt, ist von Hand getöpfert, das Haselnussbrot, definitiv ein Nahrungsmittel aus der Jungsteinzeit, selbst gebacken.

Birkenpech zum Flicken

Bereits der erste Tag bescherte dem Trio einen unfreiwilligen Stopp im Freilichtmuseum von Oerlinghausen: Tief „Florian“ brachte am Sonntag mehr als 43 Liter Regen pro Quadratmeter. Schuhe und Kleidung seien komplett „durch“ gewesen, sagt Lukas Heinen. „Das Wasser floss uns auf den Wegen entgegen.“ Er schlüpft mit einem leisen Stöhnen aus seinen Schuhen. Seine Fußsohlen sind schwarz wie die Nacht, an den Fersen leuchtet rot das rohe Fleisch.

Im 21. Jahrhundert arbeitet der 34-Jährige als Erzieher an einem Internat für Kinder mit Förderbedarf in Trier. Am Leben im fünften Jahrtausend vor Christus reizt ihn das Erlebnis, eine andere Zeit nachzuempfinden und Dinge auszuprobieren. Geschickt klaubt er ein paar plattgetretene Moosbatzen aus den vermaledeiten Latschen. Moos und Stroh dienten bis zum Mittelalter zum Auspolstern von drückendem Schuhwerk. Bequemer macht sie das nicht. Die Treter sind definitiv durchgefallen im Alltagstest.

Auch andere Teile der Ausrüstung zeigten bereits am zweiten Tag ihre Schwächen. Erste Nähte hatten sich geöffnet, das Trinkgefäß war zu nahe ans Feuer geraten und hatte Schaden genommen. Eine abgeplatzte Stelle musste mit heißem Birkenpech geflickt werden.

An diesem Morgen scheint zum ersten Mal seit Tagen die Sonne, eine Wohltat nach einer feuchtkalten Nacht im Freien. Sie habe vor Kälte kaum geschlafen, sagt Veronika Hocke, die vor sieben Jahren aus Slowenien nach Deutschland kam und heute als Krankenpflegerin in einem Kölner Krankenhaus arbeitet. Ihr Gesicht ist schön und alabasterblass, die Finger sind noch immer kalt und klamm von der Nacht.

Sie hat sich in einem Bach gewaschen, zum Frühstück gab es Gerstenflocken und Wasser, in dem ein paar Blätter wilde Minze schwammen. Auch ihre Füße sind blutig geschrammt. Die schwere Kiepe hat schon am ersten Tag blaue Flecken in ihren Rücken gedrückt. Jetzt trägt sie ein Schaffell unter dem Gestänge.

Der Weg führt steil bergauf, weg von den viel besuchten Externsteinen, hinein in den Wald. Noch mindestens elf Kilometer will das Trio wandern, ehe es sich einen Schlafplatz unter Bäumen sucht. Es ist still auf dem Höhenweg, Sonnenstrahlen tupfen helle Flecken auf den Waldboden. Weit, weit entfernt hört man das Brausen einer Schnellstraße, das Kreischen von Motorsägen. Bald verstummen auch diese Geräusche. Jetzt sind nur noch die Schritte der Steinzeit-Wanderer zu hören. „Keine Ahnung, ob ich bis zum Ende durchhalte“, sagt Veronika Hocke. „Wenn es nicht mehr geht, höre ich halt auf. Die Erfahrung, in eine andere Zeit einzutauchen und morgens in der freien Natur aufzuwachen, ist die Mühe auf jeden Fall wert.“

Trinkwasser fürs Frühstück holt Marco Hocke aus einem Bach.
Trinkwasser fürs Frühstück holt Marco Hocke aus einem Bach.
Martina Goyert Lizenz