Amoklauf Amoklauf: Fluchtstory zur besten TV-Zeit
STUTTGART/MZ. - Als bekannt wurde, wer der 41-Jährige ist, der von Tim K. mit vorgehaltener Waffe gezwungen wurde, sein Auto als Fluchtauto zu steuern, gleicht dessen Haus in Göggingen (Ostalbkreis) einem Belagerungszustand.
Der 41-Jährige verhandelt offenkundig über Infos gegen Geld. Fünfstellige Summen sind keine Seltenheit. Ein Mann vom Weißen Ring vermittelt zwischen dem Mann und den Reportern von Spiegel, Stern, ZDF, ARD und anderen, die unbedingt eine exklusive "Story" haben wollen.
Dem Vernehmen nach soll an diesem Tag der "Stern" im Verbund mit "Beckmann" das Rennen gemacht haben. Oder auch Beckmann allein. Irgendwo zur besten Sendezeit, soviel ist sicher, wird der Sharan-Fahrer seine Geschichte erzählen - jene fast unglaubliche Geschichte, wie er bei der Autobahnauffahrt Wendlingen einen Streifenwagen der Polizei sieht und dies, so der Landespolizeipräsident Erwin Hetger, als "letzte Möglichkeit" sah, aus dem Ganzen lebend herauszukommen. Er lenkt den Wagen bewusst auf den Seitenbereich, lässt sich aus dem rollenden Wagen rollen und flieht.
Die Landesregierung Baden-Württembergs schaltete am Samstag eine großflächige Traueranzeige - und machte mit einem Schlag alles zunichte, was die Hinterbliebenen der 15 Opfer geschützt hätte. Alle Namen der Toten sind in voller Länge zu lesen. "Baden-Württemberg trauert um . . ., die durch das entsetzliche und unfassbare Ereignis am 11. März in Winnenden und Wendlingen aus dem Leben gerissen wurden."
Die Hinterbliebenen wollen "nicht in der Öffentlichkeit erscheinen", sagt Annette Kull von der Nachfolgeseelsorge des Deutschen Roten Kreuzes. Das ist nicht mehr möglich.
Am Samstag wurde das erste Opfer beerdigt, eine 15-jährige aus der 10d der Albertville-Realschule. Hunderte kamen auf den Stadtfriedhof. Auch Schülerinnen und Schüler ihrer Klasse - Überlebende, die am offenen Grab fast zerbrechen an der Erinnerung. Den Eltern und der 15-jährigen Schwester des Täters ist Gemeinschaft verwehrt. Sie wollen sie offenkundig auch nicht. Bereits am Donnerstag zogen sie sich zurück an einem nur den Ermittlern bekannten Ort. Auch ihr Haus in Weiler zum Stein war im medialen Belagerungszustand. Seelsorgerische oder psychologische Hilfe sollen sie abgelehnt haben, berichtet die Polizei.
Die Familie hat sich einen Anwalt genommen, der im Stuttgarter Raum kein unbekannter Strafverteidiger ist. Achim Bächle wandte sich im Namen der Familie über das Nachrichtenmagazin "Focus" an die Öffentlichkeit: Tim K. sei nie in medizinischer Behandlung gewesen, behauptet er dort. Das aber hatte die Staatsanwaltschaft Stuttgart als gesichert dargestellt.
Von April bis September 2008, so Staatsanwalt Dietrich Mahler, habe der Junge eine stationäre Therapie im Klinikum Weißenhof in Weinsberg gemacht. Bestätigt wurde vom Leiter der Klinik aber, dass Tim auf ambulanter Basis in der Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen war. Dies veranlasst Bächle dazu, "presse- und strafrechtliche Schritte" auch gegen das Klinikum zu erwägen. Der Arzt habe seine Schweigepflicht gebrochen.
Psychotherapie oder Einzeltermine? War er dort oder nicht? Es geht um Begriffe, um "Punkt und Komma", wie ein Jurist meint, und in Folge natürlich um strafrechtliche Verantwortung für die grausame Tat. Die Staatsanwaltschaft hat noch nicht entschieden, ob gegen den Vater von Tim ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Tötung eröffnet wird, weil letztlich der Zugang zu der Tatwaffe das Geschehen ermöglichte.
Der Anwalt korrigiert auch andere Behauptungen: Es gebe keinen Schießstand im Keller des Hauses. Dies hatten Medien unter Berufung auf Nacharn gemeldet. Die Ermittler sind vorsichtig geworden, nachdem sich die Ankündigung der Tat in einem Chatroom als Fälschung entpuppen könnte. Weder die Meldung, Tim habe am Vorabend der Tat das Killerspiel "FarCry2" gespielt, noch die Angabe, Tim, habe um 21.40 Uhr den PC ausgeschaltet, wird bestätigt. Sicher sei nur, dass der 17-Jährige eine "größere Zahl Pornobilder" auf seinem Rechner gehabt habe - bevorzugt solche, in denen nackte Frauen gefesselt waren. Inzwischen tritt der Betreiber des Spaßforums krautschan.net nach: Er sehe "Mangel an Kompetenz" bei der baden-württembergischen Polizei. Am Samstag wird Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur zentralen Trauerfeier nach Winnenden kommmen. Viele Reporter wundern sich über diesen späten Zeitpunkt.