Bürokratie an Kliniken 100 Prozent Pflege im Krankenhaus? „Das geht einfach nicht“
Die Aktenstapel aus Papier werden kleiner, aber: Detaillierteste Dokumentationen und lange Ladezeiten am Computer rauben Pflegekräften die Zeit für die Patienten. Ein Einblick in den Klinikalltag.

Hannover - Wer sich für die Arbeit in einem Krankenhaus entscheidet, der will in der Regel eines: Menschen helfen. Für sie da sein, wenn es ihnen schlecht geht. Doch immer häufiger sitzen die Pflegekräfte statt am Patientenbett an Computerprogrammen und Formularen. Das beklagt die Niedersächsische Krankenhausgesellschaft (NKG) – und so berichtet es auch Yosef Ramfar, Leiter der Station für Gastroenterologie und Diabetologie am KRH Klinikum Siloah in Hannover, gleich neben der Fußballarena am Maschsee.
„Als ich angefangen habe, hatte ich wirklich Zeit, mich neben den Patienten hinzusetzen und fünf Minuten einfach über sein Leben zu sprechen und den Menschen kennenzulernen“, sagt der 38 Jahre alte Ramfar. „Heute gibt es Tage, wo es sich anfühlt, als würde man die Patienten eher abarbeiten. Wir versuchen immer, menschlich zu sein, auch ein bisschen Nähe zu haben zu den Patienten. Aber es gibt wirklich Tage, da geht es nicht anders.“
Die NKG als Klinikverband hat für dieses Gefühl ein eindrückliches Bild gefunden: Im August baute sie eine fünf Meter hohe Welle aus Kartons vor das Neue Rathaus in Hannover. Kartons, die symbolisch für Akten, Formulare und Gesetzestexte stehen sollten – und davor, als Schaufensterpuppen, drei Klinikbeschäftigte, die drohten, von der Bürokratie umgeworfen zu werden.
Stationsleiter: 60 bis 70 Prozent der Arbeit ist Bürokratie
Drei von acht Stunden der Tagesarbeitszeit entfielen in den Kliniken mittlerweile auf Dokumentationspflichten, sagte NKG-Verbandsdirektor Helge Engelke damals. Stationsleiter Ramfar hält das sogar noch für untertrieben. „Wenn man wirklich jede einzelne Sache berechnen würde, wäre das viel mehr.“ Er schätzt den Bürokratie-Anteil bei seinen Pflegekräften auf 60 bis 70 Prozent.
„Es geht nichts mehr so nach dem Motto: "Der Arzt ruft das rein und es wird gemacht"“, sagt Ramfar. „Sondern das ist alles digitalisiert und alles, was wir machen, muss irgendwo festgelegt werden.“
„Patientenversorgung leidet darunter“
Als sich Niedersachsens Gesundheitsminister Andreas Philippi im Sommer die Kartonwelle der Krankenhausgesellschaft ansah, beschrieb er mehr digitale Abläufe als einen Hebel gegen die aufwendige Papierarbeit.
Doch für Ramfar ist die Digitalisierung ein zweischneidiges Schwert. Einerseits seien die gedruckten Patientenmappen heute deutlich schmaler als früher, das schon. Auch Probleme mit unleserlicher Handschrift gebe es dadurch weniger.
Andererseits würden am Computer heute immer mehr Details erfasst – was wiederum Zeit koste. Ein nicht zu unterschätzender Faktor in einem Umfeld, in dem den Pflegekräften selbst die Zeit fürs Umkleiden eines Patienten exakt vorgeschrieben ist. Acht Minuten haben sie dafür.
„Wir haben mit der jetzigen Darstellung unserer Arbeit die Möglichkeit, überhaupt zu zeigen, wie viel Pflege tagtäglich hier geleistet wird“, sagt Ramfar. Das sei wichtig, denn nur was erfasst wird, werde auch abgerechnet und zeige den Personalbedarf. Und dennoch sagt der Stationsleiter über die Bürokratie: „Die Patientenversorgung leidet darunter.“
Minutenlanges Warten auf die Software
Ein Beispiel: die digitale Patientenkartei. An seinem Computer zeigt Ramfar, wie diese aufgebaut ist. In nicht weniger als 14 Registerkarten werden Angaben etwa zur Beweglichkeit und Körperpflege, zur Nahrungsaufnahme und zu den Ausscheidungen eingetragen – jeweils mit mehreren Unterpunkten und in einer Vielzahl von Abstufungen.
Ist dieses Klick-Labyrinth überstanden, erstellt die Software automatisch einen Vorschlag für die Pflegeplanung. Doch als Ramfar das Knöpfchen dafür drückt, passiert erst einmal: nichts. Die Software lädt, minutenlang.
Kein Einzelfall, sagt der Pflegeexperte. Alltag. Was also gegen die überbordende Bürokratie helfen würde? „Das Hilfreichste wäre, wenn die Systeme einfach schneller wären“, sagt Ramfar. „Dass man schnell – zack, zack, zack – klickt und das System ist fertig, ohne dass ich auf einen drehenden Kreis warten muss, bis das System abgespeichert hat.“
„Es ist so ein Druck für sie“
Leylan Savgat, stellvertretende Leiterin der Station für Urologie, bestätigt das. Auch in ihrem Team sei der Frust über die Bürokratie spürbar.
„Man sieht schon die Gesichter: "Oh nein, das lädt schon wieder nicht" oder "Dann muss ich das noch machen". Es ist so ein Druck für sie“, sagt Savgat. Oft fielen Überstunden an. „Die Dokumentation nimmt viel Zeit in Anspruch. Dementsprechend wird die Zeit bei den Patienten knapper.“
KI-gestützte Kameras im Patientenzimmer?
Auch die Schnittstellen bei der Datenerfassung könnten besser sein, sagt Ramfar. Wenn eine Pflegerin zum Beispiel den Blutdruck misst, werden die Ergebnisse zwar automatisch gespeichert. Die Pflegerin muss aber hinterher noch an anderer Stelle eintragen, dass sie die Tätigkeit auch ausgeführt hat.
Ein Arbeitsschritt, den auch eine kameragestützte KI-Auswertung ersetzen könnte, findet Ramfar. In Japan gebe es das schon, dass die Kamera sieht, wie die Pflegerin misst – und das Programm die Tätigkeit damit automatisch abhakt. Selbst Beratungsgespräche könnten so erkannt werden.
Mit dem Datenschutz in Deutschland dürfte das nicht so einfach umzusetzen sein, das weiß auch Ramfar. Aber das Szenario steht für seinen Wunsch, weniger Zeit auf das Aufschreiben und Dokumentieren verwenden zu müssen, „sondern mehr Zeit beim Patienten zu haben, sodass wir uns die Versorgung des Patienten mehr zu Herzen nehmen können“.
„Es wird das gemacht, was gemacht werden kann“
Zeit für das also, was heute oft zu kurz kommt. In einem deutschen Krankenhaus müsse zwar niemand Schmerzen haben oder hungrig sein. Aber: „Es gibt keinen Patienten, der 100 Prozent der Pflegeleistungen erhält. Das geht einfach aus zeitlichen Gründen nicht“, sagt Ramfar. „Es wird das gemacht, was gemacht werden kann.“