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Ärzteversorgung in Sachsen-Anhalt Zu wenig junge Ärzte in Sachsen-Anhalt, die Mediziner sind überaltert

Von Bärbel Böttcher 07.04.2016, 11:38
Wenn Ärzte keine Nachfolger finden, müssen sie ihre Praxis schließen.
Wenn Ärzte keine Nachfolger finden, müssen sie ihre Praxis schließen. dpa-Zentralbild

Halle (Saale) - Endlich ausschlafen, Zeit für Hobbys und die Enkel, den Berg ungelesener Bücher abzutragen und zu reisen. All das geht, wenn das Rentenalter erreicht ist. Bei Brigitte Thieme wäre das mit 65 Jahren der Fall gewesen. Doch die Ärztin arbeitete danach noch acht Jahre weiter.

Dabei hatte sie schon mit 63 Jahren angefangen, sich nach einem Nachfolger für ihre Hausarztpraxis in Lützen (Burgenlandkreis) umzusehen. Aber erst Ende Januar dieses Jahres konnte die inzwischen 73-Jährige die Schlüssel an die frischgebackene Fachärztin für Allgemeinmedizin Mandy Schwabe übergeben. „Es war ein Riesenglück, dass ich sie gefunden habe“, sagt die Medizinerin.

Viel Mühe unternommen

Was hatte Brigitte Thieme in den Jahren zuvor nicht alles unternommen, um einen Arzt für die Arbeit in der ländlichen Region zu gewinnen. Sie versuchte, Studenten, die bei ihr Praktika absolvierten, sowie junge Kollegen, die sich schon in der Facharztausbildung befanden, dafür zu begeistern. Sie schaltete Arztvermittlungsagenturen ein, platzierte Anzeigen in der Ärztezeitung, sprach selbst auf Weiterbildungsveranstaltungen. Ab 2012 tauchte sie in der Praxisbörse der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt (KV) auf. Hin und wieder stellten sich auch Interessenten vor. Aber zum Schwur kam es nie.

So harrte Brigitte Thieme aus. Mit 65 Jahren die Praxis zusperren? „Nein“, sagt sie. „Ich wollte, dass meine Patienten weiter versorgt sind und dass meine Mitarbeiter, die wirklich top sind, ihre Arbeit behalten.“

1 300 Patienten hat die Ärztin pro Quartal behandelt. Am Ende seien es weniger geworden. Den Leuten sei klar gewesen, dass eine über 70-Jährige nicht ewig weiterarbeiten kann, sagt Brigitte Thieme. Sie hätten sich rasch andere Ärzte gesucht - zumal einige Praxen in der Region schon eine Annahmesperre verhängt hatten. Seit Mandy Schwabe da ist, steigt die Zahl wieder an.

Die junge Kollegin stellte sich vor gut einem Jahr in Lützen vor. Und alles passte. „Es war eine glückliche Fügung“, sagt Brigitte Thieme. Sie findet es traurig, dass so viele ältere Kollegen keinen Nachfolger finden und ihre Praxis zuschließen müssen.

Für etwa ein Drittel aller Hausärzte, die aus Altersgründen den weißen Kittel an den Nagel hängen, findet sich nach Angaben der KV kein Nachfolger. Circa 140 Stellen können derzeit in Sachsen-Anhalt nicht besetzt werden. Landesweite Aufmerksamkeit erzielte jüngst eine Patienteninitiative in Sangerhausen (Mansfeld-Südharz), die mit einer Unterschriftenaktion auf den Hausarztmangel in der Region aufmerksam machen will. Anlass ist die bevorstehende Schließung einer Praxis in Oberröblingen, für die erst nach sehr intensiven Bemühungen ein Nachfolger gefunden wurde. Solche Situationen lassen hunderte Patienten nahezu verzweifeln.

In diesen Kreisen droht eine medizinische Unterversorgung

Entsprechend der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses hat die KV Sachsen-Anhalt in 32 Planungsbereiche eingeteilt. „Sangerhausen ist einer von zwölf, in denen eine Unterversorgung droht“, sagt KV-Chef Burkhard John. Um eine ausreichende Versorgung sicherzustellen, müsste auf 1 671 Versicherte ein Hausarzt kommen. Das entspräche einem Versorgungsgrad von 100 Prozent. Steigt die Zahl der Versicherten pro Hausarzt, so sinkt der Versorgungsgrad. Liegt er unter 75 Prozent, besteht eine Unterversorgung. Von drohender Unterversorgung wird gesprochen, wenn der Versorgungsgrad aufgrund der Altersstruktur der Ärzte in einer Region in nächster Zeit eine Unterversorgung zu befürchten ist. Im Raum Sangerhausen könnten derzeit 7,5 Hausarztstellen besetzt werden. Doch in anderen Planungsbereichen sieht es noch schlechter aus. Jeweils 13,5 Stellen sind es beispielsweise in Dessau-Roßlau und im Saalekreis. Zwölf in Wernigerode.

Dabei kann von Glück geredet werden, dass viele Ärzte über das Rentenalter hinaus arbeiten. 77 von ihnen sind zwischen 65 und 69 Jahre alt. 100 sogar 70 und älter. „Theoretisch könnten die alle sofort aufhören“, sagt John. „Sie kämen dann zu den 140 hinzu. Und dann hätten wir ein richtig großes Problem.“

Ausbildung

Die Ausbildung nimmt denn in dem umfangreichen Maßnahmepaket, das die KV geschnürt hat, auch eine zentrale Stellung ein. So werden Famulaturen und Blockpraktika in Haus- und Facharztpraxen finanziell unterstützt. Das trifft auch auf den Teil Allgemeinmedizin des Praktischen Jahres zu. Freilich ist das noch keine Garantie dafür, dass sich diejenigen, die in den Genuss einer solchen Förderung kommen, auch in Sachsen-Anhalt bleiben und sich der Allgemeinmedizin verschreiben.

Anders sieht das bei den von der KV finanzierten Studienplätzen an der Universität Witten/Herdecke aus. Zwei Studenten können sich dort pro Semester einschreiben. Sie verpflichten sich, nach dem Studium im ländlichen Bereich Sachsen-Anhalts tätig zu werden. Ebenso wie diejenigen, die von den zwei großen Stipendienprogrammen profitieren. Eines davon steht allen Medizinstudenten offen, die sich im Gegenzug dazu verpflichten, nach der Ausbildung bis zu drei Jahre als ambulant tätiger Arzt in einer problematisch zu versorgenden Region in Sachsen-Anhalt zu praktizieren.

Insgesamt 825 Hausarztstellen müssen bis 2025 nachbesetzt werden. Ein wenig relativiert sich diese Zahl jedoch, wenn man sie etwas zerpflückt. So besagen die Erfahrungen der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt (KV), dass pro Jahr etwa 44 neue Hausärzte ihre Tätigkeit aufnehmen. Bleibt nach deren Berechnung ein Defizit von etwa 225 Arztstellen. „Das Problem würde lösbar sein, wenn wir es schaffen, pro Jahr etwa 20 junge Ärzte mehr als bisher zu motivieren, eine Facharztausbildung auf dem Gebiet der Allgemeinmedizin zu beginnen“, sagt Burkhard John, Chef der KV.

In den Genuss des zweiten Stipendienprogramms können die Mitglieder der Klasse Allgemeinmedizin kommen, die sich verpflichten, nach der Ausbildung für mindestens fünf Jahre als Landarzt in Sachsen-Anhalt zu arbeiten. Die Klasse Allgemeinmedizin wurde 2011 an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle unter Federführung von Professor Andreas Klement, dem Leiter der Sektion Allgemeinmedizin, ins Leben gerufen. Ziel ist es, pro Jahr bei einer Gruppe von 20 Studenten durch das ganze Studium hindurch Kenntnisse und Fertigkeiten auf einem Gebiet zu vermitteln, das im normalen Studium nur eine kleine Rolle spielt.

Stephan Müller gehört zu denen, die seit 2011 dabei sind. Wenn alles gut verläuft, wird er im Herbst sein Praktisches Jahr antreten. Das ist der letzte Studienabschnitt vor dem Staatsexamen. Ist auch das bestanden, will er die Facharztausbildung zum Allgemeinmediziner absolvieren. Geplant ist, dass er eines Tages die Praxis seines Vaters im Mansfeldischen übernimmt.

„Schon als kleines Kind hatte ich das Ziel, Medizin zu studieren“, sagt Stephan Müller. Dafür nahm er nach Abitur und Armeezeit sogar eine längere Wartezeit in Kauf. Absolvierte in der Zwischenzeit eine Ausbildung als Rettungsassistent. Als er dann 2011 die Zulassung hatte und von der Klasse Allgemeinmedizin hörte, war er gleich dabei. In den Seminaren hat er zum Beispiel Untersuchungstechniken kennengelernt, die speziell ein Allgemeinmediziner braucht. Er hat geübt, wie die Kommunikation mit Patienten laufen sollte und erfahren, wie sich sein Fach in die medizinische Landschaft einordnet.

Das machen die Mentoren in der Klasse Allgemeinmedizin

Es bleibt aber nicht bei der Theorie. Wichtiger Bestandteil ist die Zusammenarbeit mit einem Mentor, einem Landarzt, den jedes Mitglied der Klasse Allgemeinmedizin an die Seite gestellt bekommt. Bei André Wagner, Hausarzt in Teutschenthal, konnte Stephan Müller all das in den Seminaren Vermittelte praktisch anwenden. Dabei wurden die Aufgaben mit fortschreitendem Ausbildungsstand anspruchsvoller. Hat er anfangs vor allem hospitiert, so konnte er zuletzt einzelne Patienten schon selbstständig voruntersuchen und gemeinsam mit dem Arzt eine Therapie festlegen. In dieser doch relativ kurzen Zeit sei bereits gelungen, ein gewisses Maß an Arzt-Patienten-Beziehung aufzubauen. „Das ist schön“, sagt der angehende Mediziner.

„Den ersten Kontakt zu Studenten hatte ich schon vor mehr als 20 Jahren“, sagt der Mentor André Wagner. Damals habe er Seminare in seiner Praxis gehalten. In den vergangenen Jahren habe er immer wieder den Finger gehoben, wenn Praktikumsstellen gesucht wurden. Studenten absolvierten bei ihm Teile ihres Praktischen Jahres, frischgebackene Mediziner Teile ihrer Facharztausbildung.

„Trotzdem bin ich kein Hochschullehrer“, sagt der Mediziner. Vielmehr wolle er den jungen Leuten vorleben, wie vielfältig die Arbeit eines Hausarztes sei und wie erfüllend sie sein könne. Es gehe um mehr, als nur Rezepte auszustellen. „Sicher“, so sagt der 57-Jährige, „braucht der Arzt den wissenschaftlichen Hintergrund. Aber das meiste gelernt habe ich bei der Arbeit mit den Patienten.“

Genau das ist das Anliegen der Klasse Allgemeinmedizin. Aus dem Jahrgang von Stephan Müller sind übrigens noch zehn dabei. Sieben von ihnen streben eine Facharztweiterbildung in der Allgemeinmedizin in Sachsen-Anhalt an. In den folgenden Jahrgängen sind, laut Andreas Klement deutlich mehr bei der Stange geblieben, so dass derzeit 86 Studierende in den fünf Jahrgängen befinden. Sie werden von 70 Mentoren in 64 Landarztpraxen betreut.

Förderung für Hausärzte

Axel Bauer ist ein Einzelkämpfer. Er übernahm im Dezember 2014 eine Praxis in Stolberg (Mansfeld-Südharz). Der Kollege, der dort praktiziert hatte, war gestorben, mehr als 1 000 Patienten aus der Region standen über Nacht ohne Arzt da. „Als ich gefragt wurde, ob ich die Praxis übernehmen wolle, da habe ich eine Nacht, vielleicht auch zwei unruhig geschlafen“, sagt der 48-Jährige. Dann habe er zugesagt.

Was gab den Ausschlag für die Entscheidung? Der Internist hatte 20 Jahre im Südharz-Klinikum Nordhausen (Thüringen) gearbeitet, dort eine Station geleitet. Viele Kollegen, die heute als Hausarzt tätig sind, hat er in dieser Zeit ausgebildet. Diese hätten ihm zugeredet. Zum anderen habe er sich gesagt: Du hast nach 20 Jahren Krankenhaus exakt noch 20 Jahre zu arbeiten. Also kannst du noch einmal etwas Neues anfangen.

Maßnahmen

Gesagt, getan. Erleichtert wurde der Start durch eine stattliche Summe von der KV. Die fördert die Hausarzt-Ansiedlung in Gebieten, in denen eine Unterversorgung droht mit bis zu 60 000 Euro. Geld, das in die Ausstattung der Praxis gesteckt werden muss. Axel Bauer erhielt 40 000 Euro. „Das ist in Ordnung“, sagt er. Schließlich habe er eine quasi laufende Praxis übernommen. Da sei der Investitionsbedarf nicht so hoch wie in einer vollkommen neuen. Axel Bauer hat ein Ultraschallgerät und andere medizinische Ausrüstungsgegenstände angeschafft, das Geld, wie er sagt, gut für die Patienten angelegt. Zurückzahlen muss er nichts - es sei denn er bleibt weniger als vier Jahre vor Ort.

Die Maßnahmen, die die KV ergriffen hat, um den Ärztemangel abzufedern, sind vielfältig. Sie zeigen erste Wirkung. Mitunter dauert das aber einige Zeit. So braucht ein Student vom ersten Studienjahr bis zur eigenen Praxis im Idealfall elf Jahre. Aber KV-Chef John ist optimistisch. „Wenn wir so weitermachen wie bisher und die Anstrengungen aller beteiligten etwas intensivieren, dann ist das Problem lösbar“, betont er.

Medizinstudent Stephan Müller (vorn) aus der „Klasse Allgemeinmedizin“ und sein Mentor, der Arzt André Wagner, besprechen ein EKG.
Medizinstudent Stephan Müller (vorn) aus der „Klasse Allgemeinmedizin“ und sein Mentor, der Arzt André Wagner, besprechen ein EKG.
Bärbel Böttcher