Zeitgeschichte Zeitgeschichte: Immer Wut im Bauch
CHEMNITZ/MZ. - "Ausdelegiert" wurde er vom Sportclub Karl-Marx-Stadt, entschieden hatten das die Funktionäre "ganz oben", also in Berlin. Weil es um etwas Politisches ging.
Damit hatte Wolfgang Lötzsch, geboren am 18. Dezember 1952 in Chemnitz, dem späteren Karl-Marx-Stadt, das nun wieder Chemnitz heißt, wenig am Hut. Aber die Lektion, wie es in der DDR zu laufen hatte, kannte er schon. Noch 1971, als er im Kader für die Friedensfahrt und die Teilnahme an den olympischen Rennen war, hatte sich der junge Mann im Gespräch mit der Fachzeitschrift "Der Radsportler" das gewünschte Blabla in den Mund legen lassen: Dass er als Jungwähler natürlich den Kandidaten der Nationalen Front seine Stimme und sein Vertrauen geben würde. Ein Jahr später flog er trotzdem raus, die Karriere war zu Ende, bevor sie richtig begonnen hatte. Weshalb? Da kam einiges zusammen, das heute selbst in der Summe lächerlich wirkt: 1964 war sein Cousin, ebenfalls Radsportler, aus dem Westen nicht in die DDR zurückgekehrt. Anfang 1972 setzte sich der Eiskunstläufer Günter Zöller ab, ein Sportkamerad vom SC Karl-Marx-Stadt, Lötzschs Verein. Der stand ohnehin unter Beobachtung, die wachsamen Genossen witterten hier besondere Gefahren.
Und Wolfgang Lötzsch schien ein Wackelkandidat zu sein. Er machte aus seinem Desinteresse an Propaganda kein Geheimnis, er wollte Rad fahren. Punkt und Ende. Wie ein Profi am liebsten. "Ich war zu ehrlich", sagt Lötzsch, der immer noch in Chemnitz lebt.
Ende März 1972 hatte er noch mit zu Vorbereitungsrennen nach Belgien fahren sollen, doch daraus wurde nichts mehr. Vielleicht blieb der ja auch drüben? Also musste er seine Sachen packen im Sportclub, das Material abgeben, Ende der Leistungsförderung. Einen Riesenschlag nennt Lötzsch das heute. Der ihn trotzdem nicht umgeworfen hat. Immerhin hatte man ihm noch eine Betriebssportgemeinschaft ans Herz gelegt, die BSG Wismut Karl-Marx-Stadt, dort durfte er weiterfahren. Und stand bestens unter Beobachtung. "Die hatten da ihre Leute", sagt Lötzsch nüchtern. Die passten auf ihn auf. Und sagten es weiter.
Aber schlimmer als diese "Sportkameraden" waren die Inoffiziellen Mitarbeiter, 50 Spitzel hat Lötzsch in den Stasi-Akten gefunden, die über ihn geführt wurden. Diejenigen, die er kannte, hat er angesprochen: "Keiner hat Reue gezeigt, geschweige denn eine Entschuldigung herausgebracht." Ob ihn das enttäuscht? "Ich strafe diese Leute mit Verachtung", sagt Lötzsch. Und erregt sich wenig später doch über einen Stasi-Offizier, der in Berlin ein Reisebüro betreibt. Weil der den Leuten gegen Geld die Sehnsucht erfüllt, "für die er sie früher in den Knast gesperrt hat".
In den Knast musste Lötzsch auch. Nachdem er sich 1976 gegen die Ausbürgerung des Liedermachers Wolf Biermann ausgesprochen und die Unfreiheit in der DDR kritisiert hatte, wurde er wegen Staatsverleumdung verurteilt: Zu sechs Monaten Untersuchungshaft kamen vier Monate Strafvollzug. Obendrein flog er aus dem Deutschen Turn- und Sportbund. Das aber hieß: Drei Jahre lang durfte Lötzsch nicht als Aktiver in Erscheinung treten, nicht einmal in einer BSG.
Er hat dennoch weitergemacht, immer mit Wut im Bauch. Immer mit dem Ehrgeiz, es "denen zu zeigen". Und die Zuschauer haben ihm mehr als den etablierten Klub-Fahrern zugejubelt. Das sahen die Funktionäre nicht gern, verhindern konnten sie es ebenso wenig wie die Siege, die der ungeliebte Athlet noch erreichte.
Aber der große Traum hat sich nicht erfüllen können, die internationale Karriere durfte nicht sein. Und als er sie hätte haben können, war er zu alt. "Die Wende kam zu spät", sagt Wolfgang Lötzsch mit einem Anflug von Bitterkeit. Immerhin: 1990, als er für den Hannoverschen Radclub startete, hat er mit diesem Verein noch einen Deutschen Meistertitel im 100-Kilometer-Straßenvierer gewonnen. Und die neue Zeit hat die verdiente Anerkennung gebracht für Lötzsch, der seine besten Jahre als Sportler in der zweiten Liga zubringen musste. 1995 hat ihm der damalige Bundespräsident Roman Herzog das Verdienstkreuz der Republik verliehen. Es gibt einen Dokumentarfilm ("Sportsfreund Lötzsch") über ihn, der erfolgreich in den Kinos lief. Und er wird in Schulen eingeladen, um jungen Leuten zu erzählen, wie es ihm ergangen ist. Der Stolz überwiegt bei Lötzsch. Und die Wut ist geringer geworden. Auch wenn er nicht gerade vom Glück verfolgt ist. Nach Trainerarbeit in Chemnitz war er als Mechaniker für mehrere Profiteams tätig, zuletzt für Gerolsteiner und Milram. Aber dort ist inzwischen überall das Licht ausgegangen, Lötzsch seit zwei Jahren arbeitslos.
Nur das Radfahren ist ihm geblieben. "Nach 44 Jahren kannst du damit nicht aufhören." 500 Kilometer strampelt er in jeder Woche. Für sich, ganz allein. Nur wenn es regnet, sagt Wolfgang Lötzsch, fährt er nicht mehr los. Überrascht ihn das Wetter unterwegs, fährt er eisern weiter. Wie er es immer tat.