Zapfenpflücker im Landesforst Sachsen-Anhalt Zapfenpflücker im Landesforst Sachsen-Anhalt: Der Wipfelstürmer

Reuden - Wie es knackt in der Tanne. Kleine trockene Zweige regnen herab. Große Äste biegen sich zur Seite, einer nach dem anderen. Trotz Windstille. Wer genau hinsieht, erkennt ein rotes und ein gelbes Seil. Beide halten einen Mann - auf dem Kopf ein Schutzhelm, über der Schulter ein Sack. Der Mann läuft am Stamm zielstrebig nach oben. Gernot Räbel ist wieder einmal auf Erntetour, mit ganzem Einsatz. Sein Beruf hat Seltenheitswert. Er ist Zapfenpflücker.
Räbel ist unterwegs nahe Reuden (Kreis Anhalt-Bitterfeld). Seine Arbeit dient nur einem Zweck: Er sammelt hochwertige Samen für Baumschulen und Nachpflanzungen. Denn sollen die wuchtigen, bis zu 200 Jahre alten Fläming-Tannen nicht aussterben, brauchen sie Nachwuchs. Doch die Arbeit ist alles andere als einfach. „Denn die meisten Zapfen wachsen im Wipfel“, sagt der langjährige Förster im Revier Döbritz, Hermann Rautmann. Da müsse man erst einmal hingelangen. Damit aber möglichst keiner der wertvollen Samen verloren geht, gehen Wagemutige das Risiko ein - allesamt professionelle Kletterkünstler.
Davon gibt es nur wenige in Sachsen-Anhalt. Eine Handvoll ist im Dienste des Landesforstes aktiv, ungefähr noch einmal so viele arbeiten als private Dienstleister, darunter Gernot Räbel. Mehr als anderswo zählt in dieser Berufsgruppe: Jeder ist für sich ganz allein verantwortlich. Eine solide Ausbildung in Klettertechnik, Höhentauglichkeit und regelmäßige Fitness-Checks sind wichtige Voraussetzungen, um immer wieder bis in den Wipfel einer Tanne gelangen zu können.
Wenn alles klappt, vergehen kaum fünf Minuten, dann greift der Pflücker in ungefähr 35 Meter Höhe nach den ersten Zapfen. Dabei schwingt die Baumspitze immer wieder einmal nach links, dann wieder nach rechts - insgesamt bestimmt zwei, drei Meter. Hoffentlich bricht die Krone nicht, überlegt sich der Laie am Boden. Wenn das passieren würde, ginge auch der Zapfenpflücker ab - bis ihn die Sicherungsseile vier, fünf Meter tiefer auffangen.
Tannenzapfen - der Sonne am nächsten, so ist es mit einem Fernglas gut erkennbar, stehen sie wie aufgereiht. Im hohen Bogen wirft Räbel ein Probeexemplar nach unten. „Ja, das ist eine Pracht“, meint der 75-jährige Förster. Eine dicke, klebrige Harzschicht bedeckt den Fund. „Auch deshalb gehen Eingeweihte niemals ohne Handschuhe in den Wald. “
Ein scharfer Schnitt
Rautmann schneidet den Zapfen mit einem scharfen Messer auf. Die Samen, jeder fast so groß wie ein Fingernagel, werden sichtbar. Damit, so das Fazit, könne man etwas anfangen. Ordentlich getrocknet und eingesetzt ließen sich daraus vielleicht 60 junge Qualitätstannen ziehen.
Bis es so weit ist, vergehen freilich Jahrzehnte. So wie hier innerhalb eines insgesamt 1 500 Hektar großen Bestandes, der sich seit einiger Zeit in fürstlichem Privatbesitz befindet. Rautmann: „Als ich 1964 anfing, war das eine Schonung. Die Bäume reichten mir damals nur bis zum Knie.“
Dass diese Bäume noch viele Jahre Zapfen hervorbringen werden, ist für ihn klar. Dennoch müssten laut Rautmann nach und nach einzelne Tannen weichen. Als Ersatz böte sich seiner Meinung nach die Douglasie an, bekannt wegen ihrer überragenden Wuchsleistung. Ausgewachsene Bäume sind höher als Tannen, erreichen zuweilen eine Höhe von 45 Metern und mehr. Angesichts des gewaltigen Umfangs bringt es natürlich nichts, die Tanne zu schütteln und zu hoffen, dass die Zapfen herunterfallen. Die Arbeit der Wipfelstürmer in luftiger Höhe ist also unabdingbar
Für heute ist die Ernte eingebracht, der gelbe Sack prall gefüllt. Gernot Räbel beginnt damit, sich abzuseilen. Das dauert genau so lange wie der Aufstieg. Unterwegs nimmt er sogar noch einen Telefonanruf entgegen. Nach fünf Minuten steht der Zapfenpflücker auf dem weichen Waldboden. Jetzt sieht man Räbel auch an, wie zufrieden ihn seine Ausbeute stimmt.
Kein gutes Zapfenjahr
Andererseits macht er auch gleich eine Einschränkung: „2015 ist leider kein besonders gutes Zapfenjahr. Die Ausbeute fällt viel geringer als in den Vorjahren aus.“ Weniger Erntegut bedeutet weniger Geld. „Man wird nach Kilogramm bezahlt.“
Aber das ist nur eine Seite. Gernot Räbel versteht die Zapfenpflückerei nicht nur als harte Arbeit. „Es ist auch Kletterspaß.“ Ansonsten müsste er zum Klettern ins Elbsandsteingebirge. Doch für solche -Ausflüge fehle ihm die Zeit. Schließlich führt er einen Baumpflege-Betrieb mit sieben Mitarbeitern. Da komme ihm die Zapfenpflückerei als Ausgleich gerade recht. Baum und Borke will er dabei nicht schädigen. „Ich verzichte auf schweren Steigeisen, die Seiltechnik ist schonender.“
Die Saison ist kurz. Im Juli geht es mit Tanne und Douglasie los, die bis in den August hinein bestiegen werden. Im Oktober folgt die Fichte und im November ist die Kiefer dran. Die Arbeit geht auf die Knochen. Mehr als fünf, sechs Bäume könne man an einem Tag nicht leer pflücken. Ohne Muskelkater geht das auch bei Räbel ab. Dann muss Ehefrau Silke ran. Sie arbeitet als Krankenschwester. „Und wenn sie mich massiert, lösen sich Schmerzen in Nichts auf.“ Dann fühle er sich wie im siebten Himmel. (mz)