Wittenberge Wittenberge: Niedergang einer Industriestadt

Wittenberge/dpa. - Was passiert, wenn es in einer Stadt keineArbeit mehr gibt? Jedenfalls kein entschlossenes Zusammenrücken derBewohner. Stattdessen schwindet das «Wir-Gefühl« dramatisch - jederversucht mit dem zurechtzukommen, was er noch vom Leben hat. Das istdas Fazit einer wissenschaftlichen Studie, die Soziologen zwischen2007 und 2010 in der ehemaligen Industriestadt Wittenberge imNordwesten Brandenburgs durchgeführt haben. Die Ergebnisse liegenjetzt einer breiten Öffentlichkeit vor - in dem 360 Seiten starkenBand «ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einerfragmentierten Gesellschaft».
In Wittenberge stand einst eines der modernsten NähmaschinenwerkeEuropas, zu DDR-Zeiten lebten in der Stadt 33 000 Menschen. Dannwurde das «Veritas»-Werk geschlossen und in Wittenberge begann dersozioökonomische Niedergang: Heute zählt die Stadt an der Elbe nochknapp 19 000 Einwohner, bald soll ihre Zahl auf 10 000 sinken. Vielesind arbeitslos, staatliche Transferleistungen verhindern, dass dieStadt zum Ghetto wird. «Vom Musterknaben des europäischen Ostblockszum armen Vetter der Bundesrepublik», bilanziert Projekteiter HeinzBude.
Bude ist einer der bekanntesten deutschen Soziologen. DasBesondere seiner Studie ist, dass nicht nur ein Dutzend Ethnologenund Sozialforscher fast drei Jahre lang ihr Leben auf Wittenbergeausrichteten. Sie wurden außerdem von etlichen Künstlern begleitet,die den Alltag der Menschen auf ihre Art unter die Lupe nahmen. Soversammelt der Studienband nicht nur akademische Aufsätze, sondernauch viele Fotos, Reportagen und Auszüge aus Theaterstücken.Aufführungen wie «Die Überflüssigen» wurden vom Berliner Maxim GorkiTheater auf die Bühne gebracht. Das Bundesbildungsministeriumfinanzierte das Projekt mit 1,7 Millionen Euro.
Eine Haupterkenntnis ist laut dem Soziologen Bude, dass die«ostdeutsche Schicksalsgemeinschaft» in Wittenberge und anderswonicht existiert. Stattdessen gebe es Gewinner und Verlierer derWende, die nichts mehr miteinander zu tun hätten. Vielen gelänge esdabei durchaus, ihren Alltag zu meistern - etwa durch ein«kunstvolles Portfolio von Mehrfachtätigkeiten», berichtet Bude: Sokönne man in die Wittenberger Videothek auch Fisch zum Räuchernbringen. Und der Anhängerbauer betreibe nebenbei eine Kontaktbörseund vermittle Frauen aus der Ukraine.
Andere dagegen hängen seit Jahren am Tropf des Staates. Für siesteigt immer am letzten Werktag im Monat die «Hartz-IV-Party». Dannbildet sich vor der Wittenberger Sparkasse eine lange Schlange unddie Menschen heben vorfreudig ihre Transfereinkommen ab. Die Autorender Studie nennen die gesellschaftlichen Entwicklungen in Wittenbergeexemplarisch: Man könne sie genauso in Kattowitz, Aberdeen, Lüttichoder Wuppertal beobachten.
Die Wittenberger waren nicht alle glücklich über diewissenschaftlichen Untersuchungen, die in ihrem Ort angestelltwurden. An erster Stelle beklagte sich Bürgermeister Oliver Hermann(parteilos) über die «zahlreichen Klischees» und subjektivenBeobachtungen. Immer wieder werde Wittenberge als«Top-Negativ-Beispiel» aus Ostdeutschland angeführt, das helfe nichtbei der Lösung der Probleme.
Um die Kehrtwende einzuleiten, nahmen sie in Wittenberge 2011einen teuren Elbhafen in Betrieb. Mit ihm soll wieder leistungsfähigeIndustrie in der Prignitz angesiedelt werden, wie BrandenburgMinisterpräsident Matthias Platzeck (SPD) bei der Eröffnungankündigte. Auch von der Anbindung Wittenberges an die verlängerteAutobahn 14 verspricht man sich viel. Allein der Soziologe Heinz Budebleibt skeptisch. Solche Maßnahmen seien letztlich nur «Aktionismus»,sagt der 58-Jährige. Das industrielle Zeitalter sei nicht nur inWittenberge vorbei. «Die Stadt wird eine noch kleinere Stadt werden.»Diese «Negativ-Idylle» bringe immerhin eine gewisse Beruhigung mitsich.