Interview mit Sascha Gläßer IHK-Präsident: Schwankende Energiepreise bedrohen etliche Industriefirmen
Der hallesche IHK-Präsident Sascha Gläßer fordert eine Transformation, die die Industrie In Sachsen-Anhalt voranbringt und nicht zerstört. Was aus seiner Sicht getan werden muss.
Halle/MZ. - Die Wirtschaft in Sachsen-Anhalt schrumpft, vor allem wichtige Industriebranchen wie die Chemie drosseln aufgrund hoher Energiepreise die Produktion. Der ehrenamtliche Präsident der Industrie- und Handelskammer Halle-Dessau, Sascha Gläßer, sieht die Lage aufgrund steigender Insolvenzzahlen kritisch. Gläßer, der Volksbank-Chef in Halle ist, fordert den Zeitplan für die klimaneutrale Transformation zu überarbeiten. MZ-Wirtschaftsredakteur Steffen Höhne sprach vor Weihnachten mit ihm.
Die Chemie-Industrie in Sachsen-Anhalt funkt SOS, wie schätzen Sie die wirtschaftliche Lage insgesamt im Land ein?
Sascha Gläßer: Ich würde das ganze Thema mit dem Begriff „Verunsicherung“ überschreiben. Seit zwei bis drei Jahren weisen wir als IHK darauf hin, dass die Investitionstätigkeit deutlich zurückgeht. Nun zeigt sich, dass einigen Firmen die Puste ausgeht. Was in der Regel noch passiert, sind Ersatzinvestitionen, doch die reichen nicht aus, um Wachstum zu erzeugen.
Vor einem halben Jahr haben Sie im MZ-Interview gesagt, dass Sie keine Insolvenzwelle erwarten. Hat sich Ihre Ansicht verändert?
Ja, die Lage hat sich seither verschlechtert. In Deutschland werden in diesem Jahr 20.000 Insolvenzen erwartet – der höchste Wert seit zehn Jahren. Das sind noch keine Weltuntergangszahlen, doch in einem normalen Umfeld befinden wir uns damit nicht mehr.
Warum kommt die Wirtschaft seit drei Jahren nicht mehr in Tritt? Die Energiepreise sind doch wieder gefallen?
Die Frage ist immer, was ich als Bezugszahl nehme. Im Vergleich zu den extrem hohen Gaspreisen 2022 und 2023 ist Energie wieder günstiger geworden. Doch der Erdgaspreis liegt deutlich über dem langjährigen Durchschnitt. Wir als Verbraucher und Wähler merken das nicht so stark, doch für die Chemieindustrie in Sachsen-Anhalt ist der schwankende Großhandelspreis von Gas und Strom sehr belastend.
Dann machen wir es konkret: Sollen wir die Ostseepipeline wieder nutzen, um günstiges russisches Gas zu importieren?
Die Frage stellt sich nicht, die Pipeline ist vor zwei Jahren buchstäblich in die Luft gegangen.
Das lässt sich alles reparieren.
Das weiß ich nicht. Wir haben eine geopolitische Situation, bei der das aktuell kein Thema ist. Ich sehe eher einen Ansatzpunkt in der Geschwindigkeit der Transformation. Die Energiepreise bekommen wir nur in den Griff, wenn ausreichend Energie am Markt ist. Die noch amtierende Bundesregierung wollte bis 2030 aus der Kohle aussteigen. Dadurch wird das Angebot weiter verknappt. Wir müssen bei der gesamten Transformation darauf achten, dass sie umsetzbar ist. Das wird ein wichtiges Thema für die neue Bundesregierung.
Wenn Sie und andere jetzt den Zeitplan der Transformation infrage stellen, könnte auch Unsicherheit erzeugt werden. Welche Unternehmen investieren dann noch in Klimaschutz?
Ich stelle den Transformationspfad nicht infrage. Doch aktuell können wir Wind- und Sonnenenergie, die zeitweise im Überfluss und zeitweise gar nicht zur Verfügung stehen, nicht kostengünstig speichern. Solange es diese Speicher nicht gibt, haben wir teilweise extrem hohe Energiepreise, die zu Abschaltungen von Industrieanlagen führen. Das geht nicht. Wir benötigen eine Transformation, die unsere Industrie in Sachsen-Anhalt voranbringt und nicht zerstört. Deswegen fordere ich einen realistischen Zeitplan.
Man sieht in Sachsen-Anhalt, dass Firmen in neue Bereiche, etwa in der Biochemie, investieren. Es geht in bestimmten Bereichen mit der Transformation voran.
Das stimmt und diese Investitionen sind sehr wichtig. In Leuna geht jetzt für über eine Milliarde Euro eine neue Biochemikalien-Raffinerie in Betrieb. In Bitterfeld wurde eine Lithium-Raffinerie eröffnet. Auch in Halle am Weinbergcampus haben sich neue Firmen wie Wacker angesiedelt. Diese Unternehmen werden die Wirtschaft im südlichen Sachsen-Anhalt künftig auch voranbringen.
Erdgas wird in Deutschland aber nicht so günstig zur Verfügung stehen wie in den USA oder Saudi-Arabien. Müssen wir uns nicht ehrlich machen und sagen: Bestimmte Industrien, etwa in der Basis-Chemie, werden wir nicht halten können?
Dann müssen wir in allen Facetten ehrlich sein. Schaffen wir es durch die Neuinvestitionen, das zu kompensieren, was uns verloren geht? Das ist überhaupt nicht erkennbar. Die Leuchttürme, die entstehen, können nicht das ausgleichen, was aktuell gefährdet ist. Ein zweiter Punkt ist: Düngemittel werden in Sachsen-Anhalt schon heute deutlich klimaschonender hergestellt als in Russland. Wollen wir künftig wirklich so wichtige Rohstoffe für die Landwirtschaft nur importieren und die bei der Herstellung entstehenden Treibhausgasemissionen exportieren? Meine Antwort ist klar: nein.
Im Februar 2025 wird die neue Bundesregierung gewählt. Was muss diese noch tun, um die wirtschaftlichen Probleme zu lösen?
Zunächst muss erst einmal ein Kassensturz gemacht werden. Wir brauchen einen Haushalt, der mit Blick auf die investiven und konsumtiven Maßnahmen ausgewogen ist. Neben den Energiekosten sind auch die Arbeitskosten für viele unserer Unternehmen ein wichtiges Thema. Im Jahr 2022 kostete die Arbeitsstunde in Deutschland im Schnitt 39 Euro – in Europa lag der Schnitt bei 30,50 Euro. Durch steigende Sozialversicherungsbeiträge, etwa bei Gesundheit und Pflege, erhöhen sich die Lohnnebenkosten weiter beträchtlich. Das heißt, die Arbeitgeber müssen noch mehr zahlen, die Arbeitnehmer, die die Kosten zur Hälfte tragen, haben aber weniger Lohn. Auch hier muss Deutschland seine Wettbewerbsfähigkeit deutlich erhöhen.
Damit es bergauf geht, muss auch die Leistungsbereitschaft stimmen. Doch es gibt immer weniger Menschen, die sich selbstständig machen, die unternehmerische Risiken eingehen wollen.
Das ist in der Tat ein großes Problem. Es fehlen nicht nur Selbstständige, sondern auch qualifizierte Arbeitnehmer. Dass Sachsen-Anhalt wirtschaftlich auch im Bundesvergleich schlecht abschneidet, liegt nicht nur an hohen Energiekosten, sondern auch an fehlenden Fachkräften. Wir haben dazu ein Positionspapier bei der IHK verabschiedet. Mit einem ganzen Strauß von Maßnahmen wie Zuwanderung und Qualifizierung muss dem entgegengewirkt werden. Den aktuell in Sachsen-Anhalt ausgerufenen Einstellungsstopp im Landesdienst halte ich für ein wichtiges Signal. Wir müssen die Kosten im Öffentlichen Dienst begrenzen, vielleicht führt das auch zum Bürokratieabbau. Vor allem brauchen wir aber die Fachkräfte für die Wirtschaft.
Brauchen wir wie die USA auch einen Elon Musk für den Bürokratieabbau?
Wir brauchen keinen Elon Musk, aber den Ansatz: Wir müssen – auch durch radikale Maßnahmen – die Bürokratie zurückfahren.