Streit um Sorgerecht Streit um Sorgerecht: Kinderanwälte sitzen zwischen den Stühlen
Halle/MZ. - Als ihr Mann von der Nachtschicht kam, war sie spurlos verschwunden. Der Computer lief noch, mit dem sie nächtelang in Internet-Foren geplaudert hatte. Die bangen Fragen der Kinder nach ihrer Mutter kann der Vater nicht beantworten. Keine Nachricht, kein Reiseziel. Anrufe bei Verwandten und Bekannten. Nichts.
"Solche Fälle nehmen zu", sagt Thomas Krille, Familienrichter am Amtsgericht in Zerbst. Immer häufiger spiele dabei das Internet eine Rolle, wenn Menschen einen anderen Partner kennen lernen, in einer emotionalen Kurzschlussreaktion die Koffer packen und einfach losfahren. "Das betrifft nicht nur Frauen", meint Krille und weiß nur zu gut, wie es oft weitergeht.
Nach ein paar Monaten tauchen die Verschollenen plötzlich wieder auf und wollen ihre Kinder nachholen. Der Vater ist zutiefst verletzt, will sie nicht herausgeben. Manche Kinder, erzählt Krille, "sind ebenso verletzt und wollen beim Vater bleiben" - wie in diesem Fall. "Andere freuen sich, die Mutter wiederzuhaben und wollen mitgehen." Der Streit landet vor dem Familienrichter. Für den gilt: "Das Kindeswohl steht an erster Stelle", erläutert Krille. Aber nicht selten klafften Kindeswohl und Kindeswille weit auseinander, könnten Kinder nicht frei entscheiden und würden von Eltern unter Druck gesetzt.
Um solche Fragen besser klären zu können, gibt es seit der Reform des Kindschaftsrechts von 1998 den so genannten Verfahrenspfleger. Richter Krille spricht lieber vom "Anwalt des Kindes". Der soll die Stellung der Kinder im Verfahren stärken und ihnen vor Gericht beistehen. Schöne Theorie.
In der Praxis agiert der Kindesanwalt quasi im rechtsfreien Raum. "Meine Befugnisse sind nirgendwo genau definiert", meint Verfahrenspflegerin Gabriele Wierig aus Wanzleben. Nicht selten würden Elternteile rechtlich gegen Kindesanwälte als "Störenfriede" vorgehen. In Folge dessen haben Oberlandesgerichte (OLG) schon sehr verschieden geurteilt. So meint das OLG Frankfurt a.M., dass ein telefonischer Kontakt mit den Eltern reiche und im Umfeld der Kinder nicht ermittelt werden dürfe. Andere Gerichte bejahen direkte Kontakte und nehmen - wie das Oberlandesgericht in Naumburg - die Rolle der Kinderanwälte ernst.
Dennoch: "Es muss mehr Rechtssicherheit hergestellt werden", fordert Richter Krille, erster Vorsitzender des jetzt gegründeten Landesverbandes "Anwalt des Kindes Sachsen-Anhalt" (siehe: Gründung). "Die Bedeutung der Verfahrenspfleger wird oft unterschätzt."
Was sie bewirken können, zeigt die Arbeit von Gabriele Wierig. Als der 58-jährigen gelernten Erzieherin beim Internet-Trennungsfall die wieder aufgetauchte Mutter unterstellte, auf der Seite des Vaters zu stehen, schlug die Kindesanwältin ein unabhängiges psychologisches Gutachten vor. Das kam zum gleichen Ergebnis wie sie: Die Kinder wollten bei Vater, Großeltern und ihren Freunden bleiben. Bis zur Scheidungsverhandlung übertrug das Familiengericht das Sorgerecht auf den Vater. Ende offen.
"Die meisten schwierigen Umgangsstreitigkeiten laufen direkt nach der Trennung", erläutert Richter Thomas Krille. Denn bis zur Scheidung vergehen meist rund zwei Jahre. Mitunter gelingt eine schnelle und vernünftige Einigung zwischen den streitenden Eltern schon nach einem gemeinsamen Gespräch mit dem Kindesanwalt. Wierig: "Das ist tröstlich für uns, aber leider noch sehr selten."