Stasi-Unterlagen-Behörde in Halle Stasi-Unterlagen-Behörde in Halle: Abschied von den Akten

Halle (Saale)/Potsdam/MZ - Was ihr bleibt von Halle? Uta Leichsenring blinzelt in die Sonne und lächelt zufrieden: „Ich habe hier eine schöne Zeit gehabt. Und ich habe die Scheu vor dem Fahrradfahren in der Stadt abgelegt.“ Mit ihrem Mann lebte sie im Umland von Potsdam, das Radeln im Großstadtverkehr war sie nicht gewohnt. Bis sie an die Saale kam.
Den Weg von ihrer Wohnung im halleschen Paulusviertel zu ihrem Büro am Gimritzer Damm in Halle-Neustadt hat Leichsenring, 64, fast jeden Tag mit dem Fahrrad zurückgelegt. Neun Jahre lang. Bis Anfang vergangener Woche hat sie die Außenstelle Halle der Stasi-Unterlagen-Behörde geleitet, der „Behörde“, wie sie kurz und bündig sagt. Nun ist sie im Ruhestand, ein Jahr vor dem offiziellen Pensionsalter. Sie will kürzer treten, mehr Zeit für ihre Familie haben, nicht mehr jedes Wochenende zwischen Halle und Potsdam pendeln müssen. „Es gibt Zeiten, da denkt man, jetzt ist es genug“, sagt sie.
Es war ein leiser Abschied, von der „Behörde“ angekündigt mit ein paar dürren Zeilen in einer Pressemitteilung. Ganz anders als im Juli 2005, als sie ihr Amt antrat. Damals ging ein Raunen durch die Medienlandschaft. „Couragierte Frau übernimmt hallesche Birthler-Behörde“, schrieb die MZ. Für Uta Leichsenring war der Wechsel nach Halle so etwas wie eine Rückkehr zu ihren Wurzeln. In der Wendezeit hatte sie sich im Staatlichen Komitee zur Auflösung der Stasi engagiert, später zeitweise die Außenstelle Potsdam der UnterlagenBehörde geleitet.
Polizeipräsidentin gegen Neonazis
Bundesweit einen Namen gemacht hat sich die studierte Ökonomin aber in einer anderen Position. Von 1991 bis 2002 trat sie als Polizeipräsidentin im brandenburgischen Eberswalde Neonazis entschieden entgegen - und motivierte auch Bürger, sich gegen Rechtsextremisten zu engagieren. „Das kann man nicht nur dem Staat überlassen“, davon ist sie überzeugt.
Vor Konflikten in den eigenen Reihen scheute Leichsenring als Polizeipräsidentin nicht zurück: Als 1994 Polizisten in Bernau verdächtigt wurden, Vietnamesen misshandelt zu haben, ging sie damit sofort an die Öffentlichkeit und suspendierte die Beamten vom Dienst. Korpsgeist in der Polizei - nicht mit ihr. „Sie geht dahin, wo andere, Stärkere immer wieder weglaufen.“ Diesen Satz hat der heutige Bundespräsident Joachim Gauck, selbst einst Chef der Stasi-Unterlagen-Behörde, einmal über Uta Leichsenring gesagt - Anerkennung für ihre Beharrlichkeit, mit der sie vermeintlich unpopuläre Themen wie Rechtsextremismus und Stasi-Vergangenheit beackert. Im April 2001 erhielt sie dafür den Preis „Das unerschrockene Wort“, den mehrere deutsche Luther-Städte regelmäßig ausloben.
2002 war ihre Zeit in Eberswalde trotzdem vorbei. Im Zuge einer Strukturreform wurde sie wie alle anderen Polizeipräsidenten in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Gegen die Darstellung, sie habe im Zusammenhang mit einer Überstunden-Affäre um einen ihrer Stellvertreter gehen müsse, wehrt Leichsenring sich. Sie soll den Mann gedeckt haben, Ermittlungen gegen sie wurden aber eingestellt. Noch heute ist sie überzeugt: „Man wollte mir etwas anhängen.“
In Halle hat Leichsenring die Außenstelle der Stasi-Unterlagen-Behörde in den vergangenen Jahren nach außen hin geöffnet - mit Lesungen, Vorträgen, Ausstellungen, Führungen durchs Archiv, mit Angeboten für Schulklassen und offenen Türen in der Museumsnacht und am Tag der Archive. „Für Halle und für das Thema Aufarbeitung war das sehr gut“, urteilt Heidi Bohley vom Vorstand des halleschen Vereins „Zeitgeschichte(n)“, der in der Stadt die Erinnerung an die beiden deutschen Diktaturen wachhält. Ihr Verein könne schon personell viele Veranstaltungen gar nicht stemmen.
Immer weniger Personal
Bohley bedauert Leichsenrings Rückzug: „Sie war immer eine offene Zuhörerin.“ Oft hätten sich Leute an den Verein gewandt, weil sie Probleme mit der Akteneinsicht oder dem Stellen der Anträge gehabt hätten. Jüngere etwa, die nichts über ihre Eltern in Erfahrungen bringen konnten, weil das Stasi-Unterlagen-Gesetz diese Möglichkeit lange Zeit nicht vorgesehen habe. Leichsenring habe dann immer nach einer Lösung gesucht. „Was sich möglich machen ließ, hat sie möglich gemacht.“
Mit der ihr eigenen Beharrlichkeit. Und mit immer weniger Personal. Als Uta Leichsenring im Sommer 2005 ihr Amt in Halle antrat, hatte die Außenstelle 77 Mitarbeiter. Heute sind es 21 weniger. Und das, obwohl das Interesse an den Akten ungebrochen hoch ist, wenngleich die Zahl der Anträge von Jahr zu Jahr schwankt. So wollten im vorigen Jahr im ehemaligen Bezirk Halle 3 477 Menschen Einblick in ihre Akte nehmen. Im Jahr davor waren es 4 742. Im Jahr 2011 zählte die Behörde 4 238 Anträge. Bis jemand seine Akte lesen kann, können bis zu drei Jahre ins Land gehen.
Manche hat es verwundert, dass Leichsenring ein Jahr vor Erreichen der Altersgrenze aufhört. Nachdem sie sich nach Rücksprache mit ihrer Familie dazu entschlossen hatte, schrieb sie den Beschäftigten in Halle einen Brief. Darin zitiert sie das Bibelwort „Alles hat seine Zeit“. Ihre wird nun wieder mehr ihren sechs Enkeln gehören. Ihrer ehrenamtlichen Arbeit in Institutionen wie dem Verein „Gegen Vergessen, für Demokratie“ oder der Amadeu-Antonio-Stiftung, die bundesweit Projekte gegen Rechtsextremismus mit Geld unterstützt. Und natürlich dem Radfahren. Wenn auch nicht mehr in Halle.