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Sprengsätze in der Ostsee Sprengsätze in der Ostsee: 300.000 Tonnen Kriegsmunition rosten am Meeresgrund

Von Silke Hasselmann 09.04.2019, 12:00
Ein Taucher vom Forschungstauchzentrum der Universität Kiel nähert sich in der Kolberger Heide in der Ostsee einem versenkten Munitionsrest.
Ein Taucher vom Forschungstauchzentrum der Universität Kiel nähert sich in der Kolberger Heide in der Ostsee einem versenkten Munitionsrest. Forschungstauchzentrum CAU Kiel

Kiel - Insel Usedom im Kriegsjahr 1943: Um die deutsche Heeresversuchsanstalt für Raketenforschung Peenemünde zu zerstören, wirft die Royal Air Force in einer Augustnacht 1.400 Sprengbomben, 36.000 Brandbomben und 4.100 Phosphorbomben ab. Die meisten verfehlen ihr Ziel.

Sie landen ohne zu detonieren im küstennahen Wasser. Seitdem rosten die britischen Bomben auf dem Meeresgrund durch. Sie zerfallen nicht nur, sondern entlassen auch Phosphor und toxische Stoffe wie TNT (Trinitrotoluol) ins Wasser, sagt Uwe Wichert von der Arbeitsgruppe „Munition im Meer“, die vom Umweltministerium in Kiel ins Leben gerufen worden ist.

Nach jüngsten Schätzungen sollen es allein in den deutschen Ostseegewässern noch mindestens 300.000 Tonnen intakte konventionelle Kampfmittel geben. „Wenn man das alles zusammennimmt von Skagerrak bis St. Petersburg, dann sind dort mehr als 179.000 Minen in den beiden Weltkriegen und auch schon im Krim-Krieg (1853-1856) gelegt worden“, sagt Wichert. Damals hat die Russische Flotte ihren Kriegshafen Kronstadt mit Minen gesichert, damit die Engländer, die Franzosen - also die alliierte Flotte - dort nicht eindringen konnte.

Kriegsmunition: 50 bekannte Gebiete im deutschen Ostseebereich

„Die Küste von Mecklenburg-Vorpommern war besonders im Zweiten Weltkrieg und kurz davor ein ausgedehntes Übungsgelände, und hier ist es im Augenblick noch sehr, sehr schwierig, genaue Zahlen festzulegen“, erklärt Wichert. Aber eines stehe fest: „Man kann nicht generell sagen, es gibt komplett freie Gebiete.“

Vor allem wurden unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg massenhaft noch intakte deutsche Kampfmittel in Nord- und Ostsee versenkt. Allein im deutschen Ostseebereich sind 50 Gebiete bekannt und weitere 21 Bereiche verdächtig, munitionsbelastet zu sein.

Auf der Suche nach den heutigen Liegeorten durchforstet Kapitänleutnant a.D. Wichert zahlreiche alte Logbücher, Luftaufnahmen, Wetterberichte, Schiffskarten, Militärcodes. Daraus lässt sich ableiten, wer was wann und wo verschossen oder verklappt hat.

Chemikalien aus den Munitionskörpern sind sehr giftig

Bekannt ist, dass viele der pro Fahrt bezahlten Reeder und Fischer ihre explosive Fracht bereits heimlich auf dem Weg zu offiziellen Versenkungsgebieten wie der Lübecker Bucht über Bord gekippt haben. Die Erkenntnisse fließen in eine Geo-Datenbank, die sämtliche Informationen zu Munitionslagern und Fundstellen in der Ostsee sammelt - von Wassertiefe bis Schiffsverkehr.

„So, und dieses Instrument versetzt die Behörden in die Lage zu entscheiden: Was mache ich?“, sagt Jens Sternheim vom Umweltministerium in Kiel und meint die Entscheidung zwischen Liegenlassen, Rausholen oder Abdecken der Bomben. Die können nicht nur immer noch explodieren, sondern rosten sich in den nicht minder gefährlichen Zustand einer chemischen Umweltbombe.

„Die Chemikalien aus den Munitionskörpern sind sehr giftig. Sie sind krebserregend, reichern sich in der Nahrungskette an und schädigen das Erbgut. Diese Gefahr ist da. Allerdings erst, wenn diese Stoffe austreten“, sagt Sternheim. Das hängt zusammen mit der Durchrostung der Sprengkörper. „Die sind ungleichmäßig, weil die Wandstärke der Munition unterschiedlich ist. Aber auch der Sauerstoff ist an verschiedenen Stellen in der Ostsee unterschiedlich, und der beeinflusst ebenfalls die Durchrostungsrate.“

Phosphorklümpchen können starke Verbrennungen verursachen

Auch Jens Greinert vom Helmholtz-Zentrum Geomar in Kiel versucht sich einen Überblick über die Umweltfolgen zu verschaffen. Der Meeresbiologe leitet ein Umweltmonitoring-Projekt der deutschen Küstenländer. Ökotoxikologen erforschen dabei in der Kolberger Heide die Wirkung von freigesetztem TNT-haltigen Sprengstoff.

Giftmüll ist eine gefährliche und oft auch heimtückische Hinterlassenschaft, die viele Menschen besorgt und die auch nach Jahrzehnten häufig noch für große Probleme sorgt. Das betrifft alte Kriegsmunition auf dem Meeresboden ebenso wie das Erbe der Chemieindustrie in Ost und West oder Geschäfte, die mit Müll immer wieder gemacht werden.

Die Mitteldeutsche Zeitung und der Deutschlandfunk präsentieren ab 8. April 2019 zu dem Thema unter dem Titel „Giftmüll auf der Spur“ eine Serie mit ausgewählten Beiträgen.

Weitere Folgen in Mitteldeutscher Zeitung und Deutschlandfunk

„Das TNT ist eben auch giftig und insbesondere die Umsetzprodukte, die Metaboliten. Die stehen auch im Verdacht, dass sie krebserregend sind, und wir wissen - das haben unsere Experimente gezeigt -, dass sie zum Beispiel durch Muscheln aufgenommen werden“, sagt Greinert. „Wir bringen Muscheln extra in unterschiedlichen Abständen in sogenannte Hotspots, also große Minenberge. Das sind wirklich Berge: 30 Meter lang, neun Meter breit, 1,50 Meter hoch liegen dann 80 solche Minen auf einem Haufen, wo das TNT zum Teil auch schon frei liegt.“

Jahrzehntelang schützten die Metallgehäuse den Sprengstoff vor dem Kontakt mit Wasser. Doch freigesetzt entstehen aus dem Phosphor weiße Klümpchen, die Bernstein ähneln und nicht selten an den Stränden gefunden werden. Bei Berührung können die Phosphorklümpchen bis zu 1.300 Grad Celsius heiß werden und starke Verbrennungen verursachen. „Und das Problem beim TNT ist: Wenn man es durch Muscheln aufnimmt, dann gibt es auch Fische, die die Muscheln fressen und Menschen, die die Fische essen. Und so kann das eigentlich die Nahrungskette hochwandern.“

Giftstoffe lagern sich in der Leber der Meerestiere ab

Bekannt ist den Wissenschaftlern auch, dass sich TNT gern an Mikroplastik-Partikel bindet, die ihrerseits in wachsendem Maße in die Meere und in die dortigen Nahrungsketten gelangen. Algen wiederum können das TNT in ihrem Stoffwechselkreislauf verarbeiten. Doch die Abbaustoffe, die dabei entstehen, wirken noch giftiger als das TNT selbst. Beides lagert sich in der Leber der Meerestiere ab, wie Forscher vom Hamburger Thünen-Institut für Fischereiökologie feststellten.

Mehr noch: Als sie eine Plattfisch-Art in einem besonders munitionsbelasteten Bereich der Kieler Außenförde untersuchten, stellten sie fest, dass 25 Prozent der Fische Lebertumore aufwiesen. In drei Vergleichsgebieten der Ostsee lag die Rate bei unter fünf Prozent.

Unterdessen entwickeln Wissenschaftler wie die Biologin Anja Eggert Computermodelle, die die physikalischen Bedingungen in der Ostsee realitätsnah simulieren. Sie errechnen, wohin es sprengstofftypische Schadstoffe wie TNT in welcher Lösung und in welchem Tempo treibt. Dafür füttern die Forscher ihre Rechner mit zahlreichen Daten wie Strömungsgeschwindigkeit in einem konkreten Ostseegebiet, Wassertemperatur, der Geschwindigkeit, mit der sich TNT auflöst. Mit diesem Modell könne man viele verschiedene Annahmen treffen, erklärt Anja Eggert.

Meeresbiologe gibt mit Blick auf die kommende Ostseeurlaubssaison Entwarnung

„Vielleicht liegen in einem Gebiet hundert Bomben. Fünf davon sind verrostet und ein Quadratmeter TNT liegt offen. Oder vielleicht liegen da tausend Bomben. Für diese verschiedenen Szenarien können wir das rechnen“, sagt die Wissenschaftlerin vom Leibniz Institut für Nutztierbiologie. Genauso gut könne es um Fragen zu anderen Versenkungsgebieten gehen. Wo strömt das hin? In welchen Konzentrationen? „Oder rückwärts gedacht: Wenn irgendwie im Rahmen des Umweltmonitorings festgestellt wird, hier sind aber auch hohe Konzentrationen - dass wir dann zurückrechnen können. Wo kommen die her?“

Auch das soll Politik und Verwaltung helfen, richtige Entscheidungen im Umgang mit dem Giftmüll auf dem Ostseegrund zu treffen. Noch gibt es keine festgelegten Schwellenwerte als Handreichung dafür, ab welcher Konzentration TNT und seine Abbauprodukte als gesundheitsschädigend für den Menschen zu betrachten sind. Mit Blick auf die kommende Ostseeurlaubssaison gibt Meeresbiologe Jens Greinert Entwarnung. Die TNT-Konzentration liege im Piktogramm-Bereich.

„Es sind homöopathische Konzentrationen. Ein Schluck Ostseewasser hat noch keinem geschadet. Die letzten 70 Jahre sind ja nun die Leute nicht mit einer TNT-Vergiftung gekommen und haben gesagt: Ich weiß gar nicht, was mit mir los ist“, so der Meeresbiologe. „Das Problem ist aber, dass wir sehen, dass sich die Munition immer weiter auflöst, indem die Metallhülle einfach wegrostet. Und irgendwann werden alle aufgelöst sein. Vielleicht nicht in fünf oder zehn Jahren, aber in 20, 30 oder 50 Jahren. Das Problem geht nicht weg.“

Den vollständigen Beitrag hören Sie an diesem Dienstag um 14.10 Uhr im Deutschlandfunk. Alle Beiträge können Sie auch nachhören und -lesen. (mz)