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Singen am Stock Singen am Stock: Sterben die Chöre in Sachsen-Anhalt aus?

Von Ralf Böhme 28.12.2015, 08:47
Auftritt im Pflegeheim „Gisander“: Beim Gemischten Chor Wolfen/Sandersdorf wie im Publikum ist die Freude am musikalischen Vortrag groß - allein, es fehlt an Nachwuchs.
Auftritt im Pflegeheim „Gisander“: Beim Gemischten Chor Wolfen/Sandersdorf wie im Publikum ist die Freude am musikalischen Vortrag groß - allein, es fehlt an Nachwuchs. andré Kehrer Lizenz

Bitterfeld-Wolfen - Ohne Stock geht es nicht mehr. Auf die Krücke gestützt, ist Ingrid Deutsch vom Gemischten Chor Wolfen/Sandersdorf aber eine ausdauernde Steherin. Dann hält die 79-Jährige ein ganzes Konzert lang durch und singt aus voller Kehle.

Singen am Stock. Das ist im übertragenen Sinne auch das Motto für viele Chöre in Sachsen-Anhalt. Wie in Wolfen/Sandersdorf sind ihre Mitglieder häufig schon hochbetagt. Reiner Schomburg, Präsident des Landeschorverbandes, sieht den Trend mit Sorge. Noch gebe es 375 Chöre mit etwa 12 000 Sängern. Vor zwei Jahrzehnten seien es aber fast doppelt so viele gewesen. Einzelne Neugründungen hier und da gleichen den Mitgliederschwund infolge Überalterung nicht aus. Sänger-Nachwuchs ist vielerorts nicht in Sicht. Impulse, daran etwas zu ändern, erweisen sich bislang als zu schwach.

Menschen wie Ingrid Deutsch machen aus der Not noch eine Tugend. Hält sie den Stock, sind ihre Hände zwar nicht frei, um das Textbuch zu greifen. Doch der Gesang verleiht ihr geistig Flügel, wie sie sagt. Sämtliche Texte des einstündigen Programms kann die Frau fehlerfrei aus dem Gedächtnis vortragen.

Chorgesang füllt den Raum

Da staunt nicht nur, wem es schwer fällt, sich ein Gedicht, Formeln oder manchmal auch nur eine Verabredung zu merken. „Auf mich jedenfalls kann sich der Chor verlassen“, sagt die alte Dame resolut, lächelt und klopft mit dem Gehstock auf das Parkett. So viel Begeisterungsfähigkeit wirkt ansteckend. Ihre Gesangsfreunde, zumeist Rentner, tun es ihr in punkto Engagement gleich.

Niemand kommt zu spät, nicht zur Probe, erst recht nicht zum Auftritt. So bleibt Zeit, um die Lieder-Blätter noch einmal zu studieren. Dann nimmt die Aufregung zu, der Blutdruck steigt. Lampenfieber liegt in der Luft.

Verstärkt durch junge Stimmen könnte es geradezu fulminant klingen. Aber auch so füllt der Chorgesang den großen Raum im Pflegeheim „Gisander“ in Sandersdorf. Und es ist ein Heimspiel. Das Publikum im Saal und die Sängerschar kennen sich - von früheren Auftritten, auch aus gemeinsamer Arbeit oder als ehemalige Nachbarn. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere: So groß die Wiedersehensfreude auch ist, zeigt sich genau darin ein Problem: Man bleibt letztlich unter sich. Nachwuchs ist nicht in Sicht.

So viel steht fest, aus dem Publikum ist kaum Verstärkung zu erwarten. Viele Zuhörer sind weit über 80, eine Frau ist sogar 105 Jahre alt. Andererseits, der Abstand zu mancher Sängerin und zu manchem Sänger ist gar nicht mehr so groß. Johanna Jüttner, das älteste Chor-Mitglied, zählt 87 Jahre. Und das „Küken“ im Halbrund? Krankenschwester Jana Huth drückt mit ihren 53 Jahren den Altersdurchschnitt.

Laienchöre ohne kirchlichen Hintergrund kamen verstärkt im 19. Jahrhundert auf - vor allem vor und während der Revolution von 1848/49 gründeten sich Singegemeinschaften außerhalb von Kirchen und Klöstern.

Nach dieser eher bürgerlichen Phase setzte eine zweite Gründungswelle mit dem Aufleben der Sozialdemokratie Ende des 19. Jahrhunderts ein, dabei entstanden Arbeiter-Gesangvereine. Dabei handelte es sich vor allem um Männerchöre.

Heute hingegen gibt es allerdings mehr Frauenchöre und in gemischten Chören bilden Sängerinnen meist die Mehrheit. Gesangvereine haben hauptsächlich Volkslieder im Repertoire, die so auch über die Jahrzehnte erhalten wurden.

Viel länger zurück reicht indes die Tradition der kirchlichen oder kirchennahen Chöre mit entsprechendem Repertoire. Einer der ältesten und weltweit bekanntesten ist der mehr als 800 Jahre alte Leipziger Thomanerchor.

Kleider machen Leute. Liegt mangelndes Interesse womöglich am Outfit des Chores, ist die Kleidung aus der Mode? Kaum. Attraktiv liegen die gerafften Tücher auf den Schultern der Frauen. Auch die Krawatten der Männer sitzen perfekt. Was auffällt: Die Herren sind in der deutlichen Minderheit. Dirigent Claus Männel lässt sich von der ungleichen Stimmen-Verteilung aber nicht entmutigen. Der 73-Jährige schlägt gegen seine Stimmgabel.

Ein Lobgesang auf das Fest des Friedens hebt an, mehrstimmig. Dem Kanon im Lichterschein folgt bald ein Ave Maria. Das kommt an. Einige Zuschauer summen und brummen mit. Ein Mann weint sogar vor Rührung. Keine Frage, damit ist auch der nächste Auftritt im Pflegeheim gesichert.

Nach dem Konzert schart der Chorleiter seine Mitglieder um sich, beschwört den Zusammenhalt: „Wir singen, weil es uns Freude macht und solange es uns Freude macht.“ Und dann? Die Frage, wie lange sich die Sangeslust noch bewahren lässt, bleibt unbeantwortet.

Auch Chöre in anderen Regionen, die unter Abwanderung leiden, haben keine Lösung. Verluste beklagt man vor allem im Landkreis Mansfeld-Südharz. 2014 kam etwa das Aus für den international anerkannten Kammerchor „Madrigal“ aus Eisleben. Seitdem haben sich noch weitere Chöre aufgelöst, vor allem in Dörfern.

Retten, was zu retten ist

Junge Stimmen haben dort Seltenheitswert. Noch mehr trifft das auf junge Chorleiter zu. Rudolf Holstein, der den Gemischten Chor Elstertal, Stößen und den Landchor Geußnitz (Burgenlandkreis) leitet, meint zudem: „Der Wille, Verantwortung zu übernehmen, fehlt.“ Mit seinen 84 Jahren gehört er zu den ältesten Chorleitern Sachsen-Anhalts.

Um zu retten, was zu retten ist, hilft manchmal die Zusammenlegung von mehreren Chören. Im Fall des Gemischten Chores Wolfen-Sandersdorf ist das gelungen, damals im Jahr 2004. Hervorgegangen ist der Verbund aus dem ehemaligen Jugendchor der Filmfabrik Wolfen, gegründet 1948, und dem 40 Jahre später entstandenen Volkschor Sandersdorf.

Aus Sicht des Landeschorverbandes gibt es aber noch andere mögliche Kooperationen. Als besonders naheliegend gilt ein Zusammengehen mit Kinder- oder Schulchören. Doch auch das ist offenkundig nicht so einfach. Laut Verbandspräsident Reiner Schomburg gehen die Meinungen darüber, was man eigentlich singen will, zwischen Jüngeren und Älteren oft auseinander.

Auch Claus Männel vom Gemischten Chor Wolfen-Sandersdorf kennt kein Patentrezept. Weil Abschottung aber nichts bringe, wirbt der Chorleiter für behutsame Neuerungen. Letztlich müsse alles passen. „Schließlich ist ein Chor wie eine Familie.“ Jährlich gebe es 25 Auftritte. Einmal pro Woche findet die Probe statt. „Da kann jeder kommen.“ Ob mit Stock oder ohne, das sei ihm eigentlich egal. Das ist eine Einladung - klingt aber auch etwas wie ein Hilferuf. (mz)