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Sachsen Sachsen: Schlafen über der Bahnschwelle

Von Nils-Eric Schumann 06.08.2009, 12:54
In ausrangierten Schlafwagen bietet Inhaber Ulrich Reuter Uebernachtungsmoeglichkeiten und Ferienwohnungen an. (FOTO: DDP)
In ausrangierten Schlafwagen bietet Inhaber Ulrich Reuter Uebernachtungsmoeglichkeiten und Ferienwohnungen an. (FOTO: DDP) ddp

Wolkenstein/ddp. - In den Waggons glauben frühere Bahnreisende noch immer denmarkanten Geruch des Desinfektionsmittels Wofasept erahnen zu können.Wer hier übernachtet, wartet anfänglich auf rüttelnde Schienenstöße.Doch die Schlafwagen des Wolkensteiner Zughotels im romantischenZschopautal des Erzgebirges werden nie mehr auf Reisen gehen.

Anfang der 1990er Jahre hatte Ulrich Reuter den ersten Speisewagengekauft und darin einen Imbiss an einer Bundesstraße eingerichtet.Zufällig las Uli, wie er von all seinen Gästen genannt werden will,in der Mitarbeiterzeitung der Deutschen Reichsbahn, dass nicht mehrgebrauchte Wagen als Unterkünfte ins jugoslawische Bürgerkriegsgebietgebracht werden. Seither bemühte er sich auch um ausrangierteWaggons, und so war die Idee einer Herberge mit Reichsbahn-Flairgeboren. Inzwischen hat Reuter sich 16 Eisenbahnwaggons zulegt.

Zu jedem weiß er eine Geschichte zu erzählen: Ein Schlafwagen imUrsprungszustand fuhr beispielsweise in den Tourex-Zügen, die jungeDDR-Urlauber früher von Berlin oder Dresden bis ans Schwarze Meerbrachten. Ein Güterwagen, der heute als Restaurant genutzt wird, wareinstmals als Behelfspersonenwagen rund um Annaberg-Buchholz imEinsatz.

Freilich darf auch ein Waggon aus dem Regierungszug der DDR nichtfehlen, sogar einen Lazarettzug der Nationalen Volksarmee hat Reutervor der Verschrottung gerettet und zu einer Ferienwohnungumfunktioniert. «Ich war Mitropist», erzählt Reuter stolz, zögert undscheint auf die Frage zu warten, was das denn sei. Bleibt die aus,erzählt er weiter: «Ich habe Koch gelernt bei der Mitropa inKarl-Marx-Stadt.»

Dann fuhr er jahrelang im Speisewagen zwischen Zwickau undOst-Berlin. «Die Mitropa kennen heute viele gar nicht mehr», sagt derGastwirt mit einer Leidenschaft für die Eisenbahn. Aber dieehemaligen Mitarbeiter der Bahnhofsgaststätten, Speise- undSchlafwagen oder Autobahnraststätten seien noch immer eineeingeschworene Gemeinschaft und träfen sich regelmäßig, weiß Reuterzu berichten.

Inzwischen sei das Markenrecht der Mitteleuropäischen Schlaf- undSpeisewagen Aktiengesellschaft erloschen, und er könne ganz ohneÄrger «Mitropa» an die bordeauxroten Schlafwagen seines Zughotelsschreiben. Auf Detailtreue legt er nämlich großen Wert. Und auf dieTatsache, dass sein Zughotel über eine völlig autarkeEnergieversorgung verfügt. Über ein ausgeklügeltes System, das ersich patentieren ließ, werden die abgestellten Eisenbahnwaggonsgeheizt und klimatisiert. Bis zu Außentemperaturen von minus 15 GradCelsius können Gäste beherbergt werden.

Das Restaurant verfügt über einen Biergarten auf einem offenenGüterwagen, den eine Rangierlok sogar eine kleine Strecke zur Freudekleiner Gäste ziehen und verschieben kann. Mit zwei Ferienwohnungenund den Schlafabteilen der 1. und 2. Klasse hat das WolkensteinerZughotel mehr als 60 Betten zu bieten. In einem Personenwagen mitBaujahr 1863 will Reuter bis zum Herbst eine Sauna einrichten. Undein kleines Eisenbahnmuseum plant er auch. «Weitere Wagen kann ichaber nicht gebrauchen, es gibt einfach keinen Platz mehr», sagt derGastwirt.