1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Sachsen-Anhalt
  6. >
  7. Wie Naturschützer eine seit 120 Jahren verschwundene Insel retten

Revitalisierung von Lebensraum Wie Naturschützer eine seit 120 Jahren verschwundene Insel retten

An der Elbe, ganz im Norden Sachsen-Anhalts, haben Naturschützer einen fast verloren gegangenen Lebensraum revitalisiert. Dabei wurde eine Insel geschaffen, die es seit 120 Jahren nicht mehr gab.

• 12.4.2021, 22:35

Halle (Saale) - Die Karte, die der Naturschützer Dieter Leupold in den Händen hält, zeigt eine Landschaft, die es längst nicht mehr gibt. Kein Wunder, immerhin ist die Karte 178 Jahre alt. Auf ihr ist die Hohe Garbe zu sehen, eine Halbinsel, die von der Elbe umflossen wird. Das Gebiet liegt ganz im Norden Sachsen-Anhalts, wo auf der anderen Uferseite bereits Brandenburg beginnt.

Insel Kälberwerder nach 120 Jahren wiederhergestellt

Auf der Karte, die aus dem Jahr 1843 stammt, sind Wälder eingezeichnet, wo heute Orte liegen. Durch dünne Linien markierte Trampelpfade wurden über die Zeit hinweg zu asphaltierten Straßen ausgebaut. Und die vielen großen und kleinen Inseln in der Elbe, die der Strom an beiden Uferseiten in die Landschaft gespült hatte, verschwanden durch den Eingriff des Menschen – fast zumindest.

Denn eine der Inseln gibt es heute wieder, den sogenannten Kälberwerder. Um das Eiland fließt auf der einen Seite die Elbe und auf der anderen ein dünner, 1,8 Kilometer langer Seitenarm des Flusses. Der war allerdings viele Jahrzehnte verlandet. Nun wurde er mit Baggern und Schaufeln wieder ausgehoben, wodurch aus dem Kälberwerder erneut eine Insel wurde.

Dass es soweit kam, ist auch Meike Kleinwächter und Dieter Leupold zu verdanken. Beide arbeiten für das Auenökologische Zentrum des BUND in Lenzen (Brandenburg). Die Umweltschutzorganisation hat in den vergangenen neun Jahren ein einmaliges Revitalisierungsprojekt in der Hohen Garbe durchgeführt. Dabei wurde die Auenlandschaft, die dort fast verschwunden war, wiederbelebt - inklusive Insel-Comeback.

Typische Elbe-Inseln

Doch: Was soll das Ganze? Wieso muss eine Insel, die schon verschwunden war, künstlich neu geschaffen werden? Und wozu braucht es überhaupt Auen - also die Gebiete an Flüssen, die bei Hochwasser überschwemmt werden? Ein Besuch vor Ort soll diese Fragen klären. Zum Termin trägt Dieter Leupold Gummistiefel. Wer den Kälberwerder betreten will, muss jedoch keine nassen Füße befürchten. Denn die Nebenrinne der Elbe, die ihn umspült, ist mit einem beherzten Sprung gut zu überwinden. Ein frischer Wind fegt über das parkähnliche, mit Pappeln und Weiden bestückte Grasland der Insel.

An den Ufern liegen Kies und feiner Sand: „Früher war es ganz typisch für die Elbe, dass sich Seitenarme bildeten, durch die dann Inseln entstanden“, sagt Meike Kleinwächter. Die Nutzung durch den Menschen habe diesen Lebensraum jedoch nach und nach kaputt gemacht: Flussbegradigungen, Uferbearbeitung sowie die landwirtschaftliche Nutzung ließen die Inseln verschwinden. „Oft wurden die kleinen Nebenrinnen der Flüsse einfach zugeschüttet, damit die Landwirte mit ihrem Vieh auf die Insel kamen“, erklärt Kleinwächter.

Neuer Lebensraum für den Rapfen

Was Kühen und Schafen schmeckte, war für andere Tiere und Pflanzen verheerend. Um das zu verdeutlichen, geht Dieter Leupold ganz nah an die Flussrinne heran. Das Wasser darin ist kalt, klar und nur in gemächlichem Tempo unterwegs. „In den Nebenarmen ist die Fließgeschwindigkeit langsamer als in der schnellen Elbe“, sagt der Biologe. „Viele Arten brauchen genau das.“ Ein Beispiel sei der Rapfen, ein räuberisch lebender Fisch, der wegen seiner vielen Gräten auf dem Teller selten zu finden ist.

„Der Rapfen lebt im Fluss, bevorzugt zum Laichen aber die niedrigen Geschwindigkeiten der Seitenarme.“ Ebenso gehe es etwa Steinbeißer und Zander. Verschwinden die kleinen Rinnen, verschwinden diese Fische. Und da in einem Ökosystem alles zusammenhängt, sorgt das geringe Angebot an Fisch wiederum dafür, dass auch Fischotter und Seeadler keine Nahrung mehr finden und seltener werden. Die Folge ist eine biologische Verarmung, die etwa dazu geführt hat, dass Stör oder Lachs in der Elbe überhaupt nicht mehr anzutreffen sind.

Grüne Lunge als Hochwasserschutz

Nun könnte man sagen: Na und! Wen, außer vielleicht die Angler, stört es denn, wenn ein paar weniger Fische durch den Fluss flutschen? Für Meike Kleinwächter und Dieter Leupold hat freilich die Artenvielfalt an sich einen Wert. Aber auch darüber hinaus übernehmen intakte Naturlandschaften viele Funktionen. Die Auen, zu denen auch der Kälberwerder gehört, sind durch ihren Pflanzenbestand Kohlenstoffdioxidspeicher und dienen zudem dem Hochwasserschutz, da sie Fluten und deren Ausbreitung bremsen.

Sie kühlen bei großer Hitze die Umgebung herunter, reinigen durch ihr Wurzelwerk das Wasser und sind für den Menschen auch ein Ort der Erholung. Die Hohe Garbe darf als Naturschutzgebiet zwar nur mit Genehmigung betreten werden, allerdings führt an ihr ein Radweg entlang, der rege genutzt wird und einen Einblick in die urwüchsige Landschaft ermöglicht.

Auen in schlechtem Zustand

Biotope wie die Hohe Garbe sind in Deutschland jedoch selten geworden. Das zeigte zuletzt Ende März der Auenzustandsbericht, der nach 2009 zum zweiten Mal vom Bundesamt für Naturschutz angefertigt wurde. Das Fazit: „Beim Zustand der Auen gibt es nach wie vor dringenden Handlungsbedarf.“ Nur neun Prozent der Flussauen sind laut Bericht überhaupt noch intakt.

Seit 2009 konnten lediglich 4.200 Hektar alter Auen wiederbelebt werden. „Wenn man überlegt, dass wir allein in der Hohen Garbe 420 Hektar Auenlandschaft geschaffen haben, dann sind 4.200 Hektar für ganz Deutschland erschreckend wenig“, sagt Biologin Meike Kleinwächter.

Ein fast verschwundener Lebensraum kehrt zurück

Um die Elbaue im Norden Sachsen-Anhalts wieder flottzumachen, wurde nicht nur die Flussrinne rund um den Kälberwerder ausgehoben. Die Naturschützer pflanzten zudem 14.000 Bäume und Sträucher und schlitzten den alten Deich, der die Halbinsel von der Elbe trennt, an zwei Stellen auf. „So kann das Wasser die Hohe Garbe wieder fluten“, erklärt Dieter Leupold. „Und ein fast verschwundener Lebensraum kehrt zurück.“

Röhrichte und Weichhölzer, Wiesen und Tümpel – die typische Auenlandschaft besiedelt bereits die Hohen Garbe. In einem dieser Tümpel steht Dieter Leupold und zieht - beobachtet von Graugans und Feldlerche - einen Kescher durch das trübe Wasser. Als er ihn wieder nach oben holt, herrscht im Netz mehr Betrieb als auf dem Rummel. Zig Tiere zappeln hin und her. Leupold schnappt sich einen länglichen Vielbeiner und setzt ihn auf seine Fingerkuppe. „Das ist ein seltener Kiemenfußkrebs“, erklärt er.

„Die Tiere können über viele Jahre im trockenen Boden überleben, doch sobald sie wieder mit Wasser in Berührung kommen, werden sie lebendig.“ Die Krebse seien Nahrung für Vögel und Fische. Durch die Revitalisierung könne man sie in der Hohen Garbe nun wieder finden. „Sie brauchen das Wasser, das es hier jetzt wieder gibt.“

Weniger Schiff, mehr Aue

Die Natur verzeiht viel. Das sieht man in der Hohen Garbe. Eine zerstörte Landschaft kann hier wieder entstehen, weil man ihr die Chance dazu gegeben hat. Und gerade an der Elbe sollte das für Meike Kleinwächter noch viel intensiver getan werden. „Anders als etwa auf dem Rhein gibt es hier deutlich weniger Schiffsverkehr“, sagt sie. Trotzdem werde der Fluss etwa durch Uferbearbeitung schiffbar gehalten.

„Mein Wunsch wäre, dass man diesen Kurs aufgibt und die Elbe wieder mehr zu ihrer ursprünglichen Beschaffenheit hin entwickelt“, sagt Kleinwächter. Es wäre also möglich, dass in den kommenden Jahren zum Kälberwerder noch weitere Elbe-Inseln hinzukommen. (mz/Julius Lukas)